Interview Albert Wunsch "G8-System lässt kaum Luft zum Atmen"

Neuss · Der Neusser Erziehungswissenschaftler Albert Wunsch erklärt in seinem neuen Buch "Wo bitte geht's nach Stanford?", das er gemeinsam mit der Betriebswirtin Isabelle Liegl geschrieben hat, wie Eltern ihren Nachwuchs gezielt fördern können.

 Der Erziehungswissenschaftler, Autor und Psychologe Albert Wunsch hat ein neues Buch veröffentlicht.

Der Erziehungswissenschaftler, Autor und Psychologe Albert Wunsch hat ein neues Buch veröffentlicht.

Foto: A. Woitschützke

Sollen Eltern wirklich ein Elite-Studium für ihre Kinder anstreben?

Albert Wunsch Ich definiere "Stanford" recht weit. So zeigt meine Co-Autorin, wie sie früh den Grundstein für das Auslandsstudium ihrer Söhne gelegt hat. Ich erkläre Eltern, dass gut angeleitete Kinder Erstaunliches leisten und so ihr persönliches "Stanford", also ihr Berufsziel, sei es ein Studium, einen eigenen Blumenladen oder den Meisterbrief erreichen können.

Setzen sehr ambitionierte Ziele Schüler nicht noch mehr unter Druck?

Wunsch Mein Leitsatz: Wer früh unterfordert wird, ist später oft überfordert. Wenn Eltern ihren Kindern von klein auf alles "hinterhertragen" - das beginnt mit einem Spielzeug, das sie dem Baby bringen, anstatt es dorthin robben zu lassen, und geht weiter mit einer anstrengenden Radtour, die sie auf Drängen des 14-jährigen Sohnes frühzeitig abbrechen - nehmen sie ihnen die Gelegenheit, etwas selbst zu schaffen. Erfolge fördern Selbstvertrauen und Motivation. Kindern, die an einer ständigen "Versorgungspipeline" hängen, fehlt es zwar an nichts. Sie entwickeln aber im Anstrengungs-Mangel kaum Visionen.

Wie schaffen Eltern die Balance zwischen Ermutigung und Überforderung?

Wunsch Achtsam auf ein Kind reagieren und dranbleiben bilden eine gute Basis. Das bedeutet, den Kindern zu vermitteln, dass es sich lohnt, Interessen weiter zu verfolgen, auch, wenn es mal schwierig wird; etwa, wenn Jugendliche die Lust am Klavier spielen zeitweilig verlieren.

Was, wenn Kinder Lebensziele formulieren, die nicht den Erwartungen der Eltern entsprechen, oder gar keine Berufsvorstellung haben?

Wunsch Es gilt, in die Kinder hineinzuhorchen, ihnen zuzuhören und ihre Vorstellungen und Faszinationen ernst zu nehmen; auch, wenn sie zunächst absurd klingen. Einem Berufsziel näher kommt man ergänzend durch gezieltes Suchen nach Interessen. Wählen Sie fünf Fotos aus unterschiedlichen Berufen und fragen Sie ihr Kind, was ihn oder sie anspricht. Das schafft einen Einstieg für ein tiefergehendes Gespräch und eine Annäherung an einen eventuellen Traumberuf.

Welche Einstellung haben Sie zum Leistungsbegriff?

Wunsch Leistung macht glücklich und kaputt. Welches Extrem zutrifft, hängt stark von der Leistungsdefinition ab. Hat etwas geklappt, etwa das Vorspiel beim Musikwettbewerb, fühlt sich das verflixt gut an. Geht es nur um Geld und Status, haben etwa diejenigen, die ihre Angehörigen pflegen oder Erziehungszeiten nehmen, quasi nichts geleistet - und werden mangels Anerkennung frustriert. Und: Je mehr sich jemand leisten will, desto umfangreicher muss er auch etwas schaffen.

Wird soziales Engagement zu wenig honoriert?

Wunsch Oft leider ja. Schüler beispielsweise haben dafür angesichts des ungeheuren Pensums, das sie in acht Jahren lernen müssen, kaum Zeit. Ich plädiere daher klar für G9. Ich beobachte, dass vielen Jugendlichen im G8-System kaum Luft zum Atmen bleibt.

JULIA ROMMELFANGER FÜHRTE DAS GESPRÄCH.

(NGZ)
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