140 Schulformwechsler in diesem Jahr Falscher Ehrgeiz der Eltern

140 Schulformwechsler in diesem Jahr · "Ich war ziemlich frustriert." Der 13-jährige Hendrik (Name von der Redaktion geändert) erinnert sich nur ungern an sein kurzes Gastspiel an der Realschule Norf. Schlechte Noten - schlechte Stimmung. Ein Jahr später war Schluss, Wechsel zur Maximilian-Kolbe-Hauptschule. "Meine Eltern meinten, ich sollte erst einmal versuchen, ob ich die Realschule nicht doch schaffe."

Hendrik ist nur einer von vielen Schülern in Neuss, die mit einer Hauptschul-Empfehlung in der Tasche die Grundschule verlassen, um damit an einer Realschule oder am Gymnasium zu landen. Ihr Scheitern ist oft programmiert. Diese Jungen und Mädchen sind meist jahrelang überfordert, erleben Misserfolge und sehen sich persönlich als gescheitert, wenn sie Gymnasium oder Realschule in Richtung Hauptschule verlassen müssen.

"Das Kernproblem ist die falsche Schulformwahl durch die Eltern", sagt Dieter Reich, für die Hauptschulen im Kreis Neuss zuständiger Schulrat. Der scheidende Direktor des Humboldt-Gymnasiums, Dr. Helmut Gilliam, hatte einmal diese Eltern als "beratungsresistent" bezeichnet. Reich: "Dabei ist die ,Trefferquote' der Grundschul-Empfehlungen sehr hoch." Seiner Überzeugung nach trifft in der Regel die Eltern die Schuld, weil sie ihren eigenen Ehrgeiz auf ihr Kind projizieren, es daher nicht richtig einschätzen und schnell überfordern.

Die Zahlen sprechen für sich: Alleine in diesem Jahr notierten die Schulbeamten 140 Schulformwechsler in Neuss, die vom Gymnasium, der Gesamtschule oder der Realschule zur Hauptschule wechselten. Kreisweit liegt die Zahl über 300 - so viele könnten eine eigenständige Hauptschule bilden. "Die Zahlen sind im Vergleich zu früheren Jahren förmlich explodiert", sagt Reich.

Sein dramatisches Fazit: "Jeder dritte Schüler der Hauptschulen hat seine Schullaufbahn in der Sekundarstufe I nicht in der Hauptschule begonnen." Die hohe Zahl der Wechsler sorgt für ein zusätzliches Problem: Die bestehenden Klassenverbände müssen in der sechsten oder siebten Klasse neu gebildet werden. Reich ist bekannt, dass für dieses Schuljahr in den Realschulen der Stadt 90 Kinder für die fünfte Klasse angemeldet wurden, die die Schulform-Empfehlung "Gesamt-/Hauptschule" hatten. Die Schulleiter sind machtlos, weil die Grundschul-Empfehlungen nicht bindend sind.

Jüngstes Beispiel: Die Schulleitung eines Neusser Gymnasiums riet den Eltern eines Mädchens mit einer Realschul-Empfehlung dringend von einer Anmeldung ab - aber die Eltern bestanden darauf. Landesweit wurden im Schuljahr 2000/2001 fast 22.000 so genannte "Schulformwechsler" gezählt; ein Jahr zuvor waren es noch 19.200.

Die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) spricht von "gravierenden Mängeln in unserem Schulsystem". Sie glaubt, dass vorrangig Schulen in sozialen Brennpunkten von Schulformwechseln betroffen seien und hält es für dringend erforderlich, Eltern "von der angemessenen Schulformwahl zu überzeugen". Dazu gehört auch die Hauptschule. Aber: "Das Image der Hauptschule ist jahrelang kaputt geredet worden", sagt Schulrat Reich.

Auch von offizieller Seite. In den Siebzigerjahren kam der Slogan aus dem Ministerium: "Schick dein Kind auf bessere Schulen." Reich: "Dann muss es konsequenterweise auch schlechte Schulen geben", so Reich. Die Hauptschule genieße völlig zu Unrecht einen schlechten Ruf. Als Mann aus der Praxis weiß Michael Schmitz, wovon er spricht. Der Rektor der Maximilian-Kolbe-Hauptschule an der Bergheimer Straße sieht in den Betriebspraktika und dem breiten Wahlpflichtbereich große Pluspunkte und Chancen für praxis-orientierte Schüler. "Aber die Hauptschule ist stigmatisiert", so Schmitz.

Auf der anderen Seite atmen vor allem die Schüler auf, die als Schulformwechsler in die sechste oder siebte Klasse kommen. Vor allem bei den Hauptschullehrern und deren "Vergreisung" sieht Reich ein Problem: "Das Durchschnittsalter liegt bei 53,5 Jahren. Obwohl das Einstellungsverfahren entbürokratisiert wurde, fehlt ein Dutzend Hauptschullehrer im Kreis." Viele fertige Lehrer nutzen die Chance und nehmen lieber Einstellungsangebote für Gymnasium, Real- oder Gesamtschule an.

Schulleiter Schmitz nennt die gravierenden Unterschiede zwischen einem Gymnasial- und Hauptschullehrer: "Bessere Bezahlung, Aufstiegsmöglichkeiten, ruhigere Schüler, Abschiebemöglichkeit an eine andere Schulform." Hendrik ist das egal. Der 13-Jährige kommt jetzt im Unterricht mit, erhält gute Noten und ist im Klassenverband akzeptiert. "Hier fühle ich mich wohl." Klaus D. Schumilas

(NGZ)
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