Paul Welfens "Europa muss sich neu erfinden"

Neuss · Der Volkswirt Paul Welfens ("Brexit aus Versehen") stellte sich auf dem blauen NGZ-Sofa den Fragen von Redaktionsleiter Ludger Baten.

 Der Wirtschaftsprofessor Paul Welfens beantwortete auf dem blauen NGZ-Sofa die Fragen von Redaktionsleiter Ludger Baten.

Der Wirtschaftsprofessor Paul Welfens beantwortete auf dem blauen NGZ-Sofa die Fragen von Redaktionsleiter Ludger Baten.

Foto: woi

Ihr jüngstes Buch trägt den durchaus provokanten Titel "Brexit aus Versehen". Darin bezeichnen Sie den Ausstieg Großbritanniens aus der EU als Jahrhundertereignis. Wie kann so etwas aus Versehen passieren?

Paul Welfens Unter anderem spielte die Anti-Integrationsrhetorik des ehemaligen Premierministers David Cameron eine Rolle. Der Brexit ist Resultat einer ganz merkwürdigen Cameron-Politik, die einerseits das Klagen über EU-Zuwanderung betrifft, die in Wahrheit UK ökonomische Vorteile brachte. Im Übrigen haben die britischen Wähler und auch wir Europäer einen Anspruch darauf, dass solch ein historisches Referendum informationspolitisch anständig abgewickelt wird. Im Gegensatz zum Schottland-Referendum wurden nun die Briten nicht aufgeklärt, was sie verlieren können.

Inwiefern?

Welfens Es liegt eine Studie des Finanzministeriums vor, die besagt, dass es durch den Brexit Einkommensverluste von zehn Prozent geben wird - eine Infobroschüre der Regierung führt diesen Aspekt aber nicht auf.

Ist das Absicht oder ein handwerklicher Lapsus?

Welfens Es wird Journalisten und Politiker geben, die versuchen werden, das herauszufinden. War es einfach nur Cameron-Chaos oder Pleiten, Pech und Pannen? Vielleicht gab es aber auch eine Gruppe von Anti-EU-Leuten im britischen Finanzministerium, die dachten, dass sie diese Studie nicht unbedingt veröffentlichen müssen, bevor die Infobroschüren verteilt werden. Dabei ist volle Information wichtig, damit sich die Bürger eine Meinung bilden können.

Eigentlich kann die EU doch nur ohne Entgegenkommen mit den Briten verhandeln, oder? Ansonsten wäre es doch eine Einladung an weitere Mitgliedstaaten, sich aus der EU zu verabschieden...

elfens Das sehe ich strategisch genauso. Eigentlich dürften die Brüsseler den Briten wenig anbieten. Ansonsten wäre es eine Austritts-Einladung an andere Länder - und dann haben wir möglicherweise bald einen "Frexit" in Frankreich oder einen "Nexit" in den Niederlanden.

Wie bewerten Sie die Arbeit von Jean-Claude Juncker, dem Präsidenten der Europäischen Kommission?

Welfens Ich finde, er ist viel zu weich in den Dingen, die er macht. Gerade in der Brexit-Frage hat mich sein Auftreten sehr verwundert. Er hätte nach London fahren müssen, um dort eine historische Rede zu halten. Auch wenn Cameron sagte, er solle zuhause bleiben. Es kann doch nicht sein, dass Barack Obama vor dem Referendum eine große Pro-EU-Rede hält und der Chef der EU findet den Weg nach London nicht. So kann Europäische Union nicht funktionieren.

Wie wird sich die Architektur der Europäischen Union ohne die Briten verändern?

Welfens Deutschland hatte mit Großbritannien, Dänemark und den Niederlanden eine Blockade-Mehrheit gegen Protektionismus. Aus Sicht der Wirtschaft ist es sehr vernünftig, sich unter anderem für liberalen Außenhandel einzusetzen. Wenn die Briten jetzt wegfallen, dann kommt eine größere Verantwortung auf Deutschland zu. Früher haben die USA in London angerufen, wenn sie irgendwas zu einer Sitzung in Brüssel einbringen wollten. Nun haben sie eigentlich nur noch die Wahl zwischen Paris oder Berlin. Eigentlich haben die Deutschen traditionell eine gute Beziehung zu den USA - das wird unter Donald Trump komplizierter werden.

Was muss Deutschland in dieser Situation tun?

Welfens Wir müssen uns gemeinsam mit Frankreich professioneller aufstellen, um diese EU zu managen. Wichtig ist, dass auch die Bürger die Wichtigkeit der EU verstehen. Wenn das nicht passiert, dann wird sie untergehen.

Wen rufen denn die Chinesen in Zukunft an?

Welfens China ist ein Land, das den Brexit mit großem Erschrecken verfolgt hat. Schließlich ist es für China bequem, nicht mit 28 Ländern einzeln agieren zu müssen. Jetzt weiß die Führung in China nicht, ob die Europäische Union als solche fortbesteht. Wir in Europa müssen uns umgekehrt klarmachen, dass China sein Bruttoinlandsprodukt bis 2029 Jahren verdoppelt haben wird. Aktuell hat China einen Anteil am Welteinkommen von 17,3 Prozent - und liegt somit zwei Prozentpunkte vor den USA. Wer in der EU bildet sich ein, mit so einem China ganz alleine zurechtzukommen? Das sind Hirngespinste.

Wie erklärt sich die Sichtweise derjenigen, die für den Auftritt gestimmt haben?

Welfens Allgemeiner Protest und zudem wissen die Briten sehr wenig über die EU. Der einzige Premierminister, der eine Aufklärungsaktion in den Schulen initiierte, um der Jugend diese Gemeinschaft zu erklären, war Tony Blair. Für viele bleibt sie aber ein Mysterium. In Sachen Aufklärung über die EU wurde vieles versäumt. Warum hat Juncker zum Beispiel keine Aufklärungskampagne in Großbritannien gestartet? Ein Mann wie er, der so viele Sprachen spricht, müsste doch eigentlich in vielen Hauptstädten für seine tollen Reden bekannt geworden sein. Ist er aber nicht. Das gilt aber auch für seinen Vorgänger José Manuel Barroso. Erinnern Sie sich noch an seine großartige Rede, die er in Athen während der Griechenland-Krise gehalten hat? Ich auch nicht, denn diese Rede gibt es nicht.

Was hätten Sie sich nach dem Brexit gewünscht?

Welfens Mich lässt der Brexit besorgt zurück. Ich hätte erwartet, dass sich zum Beispiel deutsch-britische oder britisch-französische Bürgermeisterpaare zusammentun, um über tolle gemeinsame Schulprojekte zu berichten. Das hätte gezeigt, dass dieses Europa Ebenen besitzt, die funktionieren. Meine Recherche hat jedoch ergeben, dass nichts dergleichen passiert ist. Dieses Europa ist an dieser Stelle stumm und tot - und das ist sehr gefährlich.

Beginnt europäische Gemeinschaft also bereits in den einzelnen Städten?

Welfens Ja, mit dem Thema Städtepartnerschaften müssen wir uns beschäftigen. Was leisten wir auf der Ebene? Das war mal alles ganz toll und ist jetzt eine ganz kleine Nummer geworden. So geht das nicht. Ich kenne aus meiner Schulzeit noch eine Europawoche - inklusive Fußballturnier et cetera. Das ist gar nicht so einfach, Europa auf dieser Ebene zusammenzuführen. Da muss man eine Menge Engagement zeigen. An dieser Stelle müssen wir Europa neu erfinden.

Appellieren Sie nur an die Regierung und Parlamente?

Welfens Es gibt wenig Hoffnung, dass da tolle Sachen kommen. Dort werden vielleicht die größten Baustellen abgearbeitet, ansonsten wird weitergemacht wie bisher. Das ist eine völlig illusorische Vorstellung. Wir müssen vielmehr sehen, wie wir eine Diskussion auf der Ebene der einzelnen Bürger zustande bringen können, bei der geklärt wird, wie sie sich das Europa des 21. Jahrhunderts vorstellen. Aber da kommt es auch auf das Engagement der einzelnen Bürger an, und die vielen Unternehmen, die von der EU profitieren - mit guten Arbeitsplätzen - sollten mir ihrer Stimme hörbar sein.

ZUSAMMENFASSUNG: SIMON JANSSEN.

(NGZ)
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