Neuss "Europa ist derzeit nicht attraktiv"

Neuss · Was sind die Folgen des "Brexit"? Wie ist die Stimmung in Brüssel? Und wie muss Europa nun handeln? Diese und weitere Fragen beantwortete der Europaabgeordnete Karl-Heinz Florenz (CDU) gestern auf dem blauen NGZ-Sofa.

 Karl-Heinz Florenz (l., CDU) sprach mit NGZ-Redaktionsleiter Ludger Baten

Karl-Heinz Florenz (l., CDU) sprach mit NGZ-Redaktionsleiter Ludger Baten

Foto: Woitschützke Andreas

Karl-Heinz Florenz hatte eine Vorahnung. "Ich kann nicht sagen, dass ich wusste, dass die Briten für den ,Brexit' stimmen, aber ich hatte Bauchschmerzen bei dem Votum", sagt der Europaabgeordnete - als jemand, der in Brüssel ganz nah dran ist am dominierenden Thema der vergangenen Woche. Gestern stand er Redaktionsleiter Ludger Baten auf dem blauen NGZ-Sofa im Restaurant Essenz Rede und Antwort. Bevor der 68-Jährige jedoch über den EU-Austritt Großbritanniens spricht, erinnert er an die Terror-Anschläge in Brüssel am 22. März, die Europa bis ins Mark erschütterten: "150 Meter vor unserem Haus ging die Bombe hoch. Als ich in mein Büro kam, saßen meine Mitarbeiter unter dem Tisch. Ich war sprachlos."

Auch nachdem das Ergebnis des EU-Referendums durchgesickert war, fehlten Florenz zunächst die Worte. "Der Austritt ist gerade für die jungen Briten eine Riesen-Herausforderung - im negativen Sinn. Nun sollten wir alle friedlich daran arbeiten, dass sie gehen." Die Stimmung in der belgischen Hauptstadt beschreibt der gebürtige Neukirchen-Vluyner als sehr sensibel. Die Kommission stehe Kopf, weil es so einen Austritt bisher noch nicht gab. Darüber hinaus habe es in der Vergangenheit noch nie eine friedliche Trennung von Ländergemeinschaften gegeben. Diese Mammut-Aufgabe gelte es nun zu stemmen.

Gerade über die möglichen Konsequenzen der Abstimmung wird viel gemutmaßt. "Ich würde mich überschätzen, wenn ich bezifferte, wie massiv der Schaden für Großbritannien wird", sagt Florenz. Auch an Deutschland werde der "Brexit" jedoch nicht spurlos vorüber gehen. Als Beispiel nennt er eine Firma in Wesel: "Ihre Kompressoren werden alleine durch die Währungsschwankung um 20 Prozent teurer." Die Auswirkungen würden hauptsächlich im Wirtschafts- und Bildungsbereich - unter anderem beim EU-Förderprogramm Erasmus - zu spüren sein. Florenz glaubt jedoch, dass bei einer moderaten Trennung, auch weiterhin "Lastwagen mit Waren aus dem Niederrhein in Richtung Großbritannien geschickt werden".

Um den Reformprozess einzuleiten, gelte es nun, sich auf die wichtigen Themen zu konzentrieren - wie eine einheitliche Flüchtlingspolitik, die der Europaabgeordnete als "große Chance" bezeichnet. Einige Mitgliedsländer seien nicht mehr weit davon entfernt, zu begreifen, dass es um Europa nicht gut stehe - und dass das Thema oben auf die Agenda gehöre. Die geeignete Moderatorin ist laut Florenz Bundeskanzlerin Angela Merkel, die in Brüssel sehr anerkannt sei.

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Eine klare Antwort, wie es zum "Brexit" kommen konnte, hat auch Florenz nicht. Generell spüre er in Europa derzeit einen verstärkten Hang zum Nationalismus. Europa sei momentan nicht attraktiv. Zudem interessiere die Briten eben nicht, ob der Euro solide ist - weil sie eine andere Währung haben. Die Briten interessierten sich ebenso wenig für das Schengen-Abkommen. "Wichtiger ist nun die Frage, was wir daraus lernen können", sagt Florenz nach einer Frage aus dem Publikum. Für Raunen im Saal sorgt er, als er auf die Frage, wie lange der EU-Austritt Großbritanniens inklusive aller erforderlicher Umstrukturierungen ungefähr dauere, mit "20 Jahre" antwortet. Womöglich eine Vorahnung.

(NGZ)
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