Neuss Die Hölle als das Ende jeder Ordnung

Neuss · Sven Post hat am Theater am Schlachthof den Jugendbuchklassiker "Herr der Fliegen" inszeniert.

 Jugendensemble "Spielstarter" bringt das Stück im TaS auf die Bühne.

Jugendensemble "Spielstarter" bringt das Stück im TaS auf die Bühne.

Foto: T. Stapelfeldt

Die Zuschauer erleben die Katastrophe hautnah. Ein großes weißes Tuch flattert in der Dunkelheit über sie, begleitet von hysterischen Schreien und umherirrenden Menschen. All das symbolisiert einen sehr gegenwärtigen Alptraum des modernen Menschen: den Absturz eines Flugzeugs. Damit beginnt der 1954 erschienene Roman "Herr der Fliegen" (Originaltitel: "Lord of the Flies") von William Golding, den Sven Post mit dem Jugendensemble Spielstarter im Theater am Schlachthof in der Fassung von Nigel Williams auf die Bühne gebracht. Roh, wild, beklemmend - ein Stück, das nachwirkt.

"Irre." Ungläubig und mit nasser Kleidung erkennt Ralph - überzeugend und mit vollem Körpereinsatz gespielt von Stefan Henaku-Grabski - seine Situation. Er ist einer der Passagiere, die den Absturz überlebt haben und vor einer Südseeinsel angespült wurden.

Zusammen mit anderen Jugendlichen aus unterschiedlichen Schulen wurde er aus seiner britischen Heimat evakuiert, "wegen der Bomben". Nun sind sie sich im vermeintlichen Paradies selbst überlassen. Endzeitstimmung wechselt sich ab mit der euphorischen Gewissheit, überlebt zu haben. Trotzdem wird allen schnell klar: Wenn sie überleben wollen, brauchen sie Regeln und einen Anführer. Ralph, smart und verantwortungsvoll, wird gewählt, ihm steht die weitsichtige, aber von allen gemobbte Piggy - einfühlsam und ausdrucksstark verkörpert von Anna Bachmann - als eine Art Stimme der Vernunft zur Seite. Als Symbol für Ordnung, Zivilisation und letztlich für Moral dient ein Muschelhorn. Auf Versammlungen hat nur derjenige das Recht zu sprechen, der es in der Hand trägt.

Die herrische Jacky - stimmgewaltig und schonungslos: Anna Scheer - befolgt die Regeln nur widerwillig, ist sie doch selbst der "Boss" des Chors, einer Schar Eliteschüler in strenger Uniform. Der Zusammenschluss zu einer einzigen Gruppe währt nur kurz, zu groß ist der Herrschaftsanspruch von Jacky, die sich bald mit ihren Getreuen in die Berge der Insel absetzt und schnell zum Sinnbild des maßlosen Despoten wird: "Ich bestimme, was Du willst!" Geschickt wird das unaufdringliche Bühnenbild (Sven Tillmann), das aus einer schrägen Holzrampe und einer Empore besteht, zu einem Doppelschauplatz. Während die Gruppe um Ralph im Vordergrund des Bühnengeschehens versucht, ihrer verzweifelten Situation durch Regeln Herr zu werden, radikalisiert sich das Gefüge um Jacky parallel im Hintergrund zu einer Truppe blutrünstiger Jäger. "Tötet das Schwein, vergießt sein Blut", ist ihr gellender Kampfschrei im anhaltenden Gewaltrausch, der schließlich auf die einzige mögliche Art beendet wird. Mord, Mitläufertum, Leugnung des Offensichtlichen - dieses dynamische Stück zeigt auf beeindruckende Weise die Verrohung des Menschen, die wie ein Automatismus dort vorherrscht, wo die einzige Regel die Willkür ist.

(NGZ)
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