Internationale Tanzwochen Neuss Unterhaltsame Wundertüte des Tanzes

Neuss · Die Compagnie von Erik Gauthier gastierte bei den Tanzwochen in der ausverkauften Stadthalle.

 Szene aus der Choreographie „Decadance“.

Szene aus der Choreographie „Decadance“.

Foto: REGINA BROCKE

Die Dame hatte sich getraut. Als ein seriös wirkender Herr auf der großen Bühne der Stadthalle nach Geburtstagskindern fragte, hatte sie sich gemeldet. Nicht ahnend, was dann mit ihr geschehen sollte. Freundlich wurde sie aus dem Saal nach oben gebeten, um sich dort zwischen zwei Tänzern auf einen Stuhl zu setzen. Zunächst blieb alles ruhig, dann verbogen die Tänzer ihre Oberkörper zu entgegengesetzten Seiten, und die Dame musste sich fürs Mitmachen und eine Richtung entscheiden. Bevor die Sache wirklich peinlich wurde, kam eine rettende Schar herangeschwebt, mit gelben Geburtstagsballons im Gepäck. Applaus für die Mutige.

Die nette Szene teilte den ersten Programmpunkt von „Classy Classics“ beim Gastspiel der Stuttgarter Gauthier Dance Company. Der Choreograph Ohad Naharin hat das Stück „Decadance“ ursprünglich für seine eigene Batsheva Dance Company einstudiert. Zu verschiedenen Musiktiteln zeigen 16 Tänzerinnen und Tänzer, was im Tanzhaus so alles möglich ist, wenn der Chef einmal woanders weilt. Es geht um Ausgelassenheit, um Knäuel-Zauber, um die Verulkung des Kasernentons: „Jetzt freuen, aber im Gleichschritt!“

Die Warm-Ups werden zu lustvollem Gender-Spiel, mal ergreift der Rhythmus die Tänzer und macht sie zu Kabuki-Puppen, mal haben sie einen Heidenspaß beim Aus-der-Reihe-tanzen. Und irgendwann lockt man dann das ahnungslose Geburtstagskind auf die Bühne. Naharins 50-Minuten-Stück ist eine äußerst unterhaltsame Wundertüte, die für jede Stadt auf der Gastspielreise neu gefüllt wird. Bei der Füllung für die Tanzwochen hatte man allerdings die Knaller bereits in die erste Hälfte gesteckt, so dass der zweite Teil etwas zerdehnt wirkte.

Seit über 20 Jahren lebt der Kanadier Eric Gauthier in Stuttgart, mit deutscher Frau und deutschen Kindern. 1996 kam er dort an das Ballett, wo er 2002 zum Solotänzer ernannt wurde. Auch später, als Choreograph und Künstlerischer Leiter seines eigenen Tanzensembles, ließ er sich Auftritte als Tänzer nicht nehmen. Bei den „Classy Classics“ ist Gauthier nicht auf der Bühne. Sein Programm feiert aber Meisterstücke des zeitgenössischen Tanzes, ergänzt durch Lieblingsstücke seiner Stuttgarter Company. Eines dieser Lieblingsstücke ist die Miniaturkomödie „Orchestra of Wolves“ aus dem Jahr 2009. Ein sechsköpfiges Wolfsrudel musiziert, doch die Musiker wollen den Leitwolf, also ihren Dirigenten, wechseln. Zum bekannten ersten Satz aus Beethovens fünfter Sinfonie ziehen die Tänzer in Wolfsmasken immer engere Kreise um das Podest in der Mitte. Dort wehrt sich der Chef, zunächst mit dem Dirigier-Stab, dann mit dem Florett. Eine köstliche Einlage, belohnt mit langem Applaus.

Es sind diese originellen, humorvollen und zugänglichen Meisterstücke, mit denen sich Gauthier und seine Dance Company seit Jahren auf der ganzen Welt präsentieren und die tollsten Preise einsammeln. Doch die immer weiter gewachsene Company, die von zwei Ballettmeistern und weiteren Mitarbeitern verstärkt wird, bildet inzwischen einen gewaltigen Posten im Budget des Theaterhauses.

Wenn dann, der Mobilitätswende geschuldet, Sponsorengelder eines namhaften Autokonzerns gekürzt werden, ist die finanzielle Lage ernst. Zumindest beim ausverkauften  Gastspiel war davon nichts zu spüren. Zwar fehlte krankheitsbedingt der von William Forsythe einstudierte „Pas de deux“ des Herman Schmerman Duets, doch dafür gab es Johnny Cash und viel Latino-Rhythmus. Als der Tänzer Theophilus Vesely im Halbschatten seinen Körper reckte, konnte man noch nicht ahnen, wie er die drei Cash-Lieder „What have I become?“, „The man comes around“, und „We’ll meet again“ zu einer hinreißenden Mischung aus Lebenszauber und Abschiedsmelancholie formen würde. Riesiger Applaus.

Nicht weniger umjubelt war „Malasangre“, Cayetano Sotos Hommage an die kubanische Sängerin La Lupe, von der auch die Musik stammt. In kurze Röcke gekleidet, umtanzen fünf Männer eine Frau. Diese bringt mit erotischem Furor eine Anti-Machismo-Nummer nach der anderen ins Bühnen-Zwielicht.

Es bleibt zu hoffen, dass Eric Gauthier mit seinen so fantasievollen Programm-Kreationen noch lange aus Stuttgart die Welt bereisen wird.

Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort