Neuss Der "revolutionäre Instinkt" der Neusser

Neuss · "Revolutionären Instinkt" attestierte Friedrich Engels den Neussern. Immerhin war die Stadt Schauplatz erster politischer Massenkundgebungen am Niederrhein. Das soziale Netz, mit dem in der Folge die konservativen Mächte auf die Forderungen der Sozialdemokratie reagierten, trägt teilweise bis heute.

Es ist der 10. September des Revolutionsjahres 1848. Seit Wochen gärt es am Niederrhein. An die zehntausend Menschen kommen auf den Rheinwiesen vor dem Neusser Hessentor zusammen, um ihrer Verzweiflung Luft zu machen — und um ihn reden zu hören: Ferdinand Lassalle, 23 Jahre alt. Ihm eilt der Ruf eines Denkers und brillanten Rhetorikers voraus. Die Menge ist begeistert.

Wenige Wochen später ruft er in einer Neusser Gastwirtschaft dazu auf, die Düsseldorfer Revolutionäre zu unterstützen. Als tags darauf der Belagerungszustand über Düsseldorf verhängt wird und eine Verhaftungswelle einsetzt, wird auch Lassalle inhaftiert. Im Prozess wird Lassalle freigesprochen — die "Neusser Rede" findet ihren Platz in den Geschichtsbüchern.

Aufruhr in Neuss befürchtet

Vorangegangen war dem Geschehen eine Verelendung der Massen, als die verarmte Landbevölkerung im Zuge der industriellen Revolution in die Städte zog. 1835 prophezeite der Neusser Bürgermeister Loerick für Deutschland ähnliche Verhältnisse wie im zuvor industrialisierten England.

Nach der Aufhebung der Klöster während der französischen Herrschaft waren zwar Armuts- und Wohltätigkeitskommissionen ins Leben gerufen worden, doch gegen die Verarmung der Menschen war damit wenig auszurichten. Das wirtschaftliche Wachstum hielt mit dem der Bevölkerung nicht mehr mit, es gab mehr Arbeitskräfte als bezahlte Arbeit. "In Neuss stiegen die Kosten für die Armenfürsorge innerhalb weniger Jahre um ein Vielfaches, 1845 machten sie ein Viertel des gesamten städtischen Etats aus", schildert Jens Metzdorf, Leiter des Stadtarchivs, die verheerende Situation.

Nur wenige Wochen nach der Märzrevolution 1848 fürchtet Bürgermeister Adam Breuer einen Aufruhr in Neuss — zu Recht, wie sich herausstellt. In der Nacht zum 3. April 1848 kommt es zum Volksaufstand, den die "Bürgerwehr" unterdrückt. Der junge Neusser Demokratische Verein unter Vorsitz des Baumwollfabrikanten Joseph Herzfeld organisiert mit anderen rheinischen Vereinen die Versammlung auf den Rheinwiesen vom 10. September 1848, zu der Menschen aus Mönchengladbach, Düsseldorf und Krefeld, Köln, Duisburg und Essen herbeiströmen. Lassalles Neusser Resolution, in der er die Entmachtung des preußischen Königs fordert, beantworten sie laut Zeitzeugen mit einem "unbeschreiblichen Beifallssturme".

Doch die Revolution scheitert zunächst, das alte System wird nahezu wiederhergestellt, die deutsche Arbeiterbewegung zerschlagen. Die konservativen Mächte haben gelernt: Überall werden bürgerliche Vereine gegründet, wie 1850 in Neuss die überkonfessionelle und liberale "Gesellschaft Erholung" oder der katholische Verein "Constantia", der seit 1909 den Namen Bürgergesellschaft führt. Erst Jahre später ist eine Wiederbelebung der demokratischen Bewegung zu spüren. 1890 kommt es zur Gründung des "Neusser Volksvereins", sozusagen ein SPD-Ortsverein.

Bürgertum unter Schock

Im selben Jahr erhalten die Sozialdemokraten bei der Reichstagswahl "aus dem Stand" 22,4 Prozent aller in Neuss abgegebenen Stimmen. Das Neusser Bürgertum steht unter Schock — und reagiert: Auf Anregung von Landrat von Schorlemer wird noch 1890 der "Neusser Verein für Gemeinwohl und Verschönerung der Stadt" ins Leben gerufen, mit dem 1891 daraus hervorgehenden Bauverein soll eines der drängendsten Probleme in Angriff genommen werden: die skandalöse Wohnungsnot.

Christliches Gewissen oder Machterhalt? Zumindest was den Arbeiterwohnungsbau der großen Neusser Unternehmen angeht, vermutet Autor Peter Diesler ("Bis die letzte Fessel der Arbeit zerbricht") dahinter weniger "soziales Verantwortungsbewusstsein" als den "Willen, weitergehende Forderungen von Gewerkschaften und Sozialdemokraten abzuwehren". "Die soziale Frage im 19. Jahrhundert sorgte für gehörigen Dampf im Kessel", sagt Metzdorf, "die Arbeiterbewegung in Neuss hat entsprechend Druck gemacht und die Konservativen verändert, die mit neuen Einrichtungen der Wohltätigkeit reagierten." Und, so seine Betrachtung, die katholischen Arbeiter mitnahmen, die sich lieber christlichen als sozialdemokratischen Vereinen zuwandten. "Mit dem vorhandenen Potenzial war in Neuss keine Revolution zu machen", glaubt Metzdorf. Nach dem Ersten Weltkrieg hätten im Gegenteil bürgerliche und linke Kreise gemeinsam eine Revolution verhindert. Das gut ausgebaute soziale Netz in Neuss und der Aufbauwille aller Beteiligten bewährten sich vor allem nach dem Zweiten Weltkrieg. Innerhalb weniger Jahre verdoppelte sich die Bevölkerungszahl in Neuss, mussten Tausende Neubürger aufgenommen, versorgt und integriert werden. "Einige der Ende des 19. Jahrhunderts entstandenen Strukturen bewiesen eine lange Wirksamkeit: Neue Stadtteile wurden aus dem Boden gestampft, Schulen und Kirchen gebaut — und das alles in einer überparteilichen Anstrengung", berichtet Metzdorf.

Und auch in späteren Jahrzehnten zogen Christ- und Sozialdemokraten immer wieder an einem Strang. Eine "Fraktion Neuss" also? Ganz so rosarot will Benno Jakubassa, seit 1995 Vorsitzender des SPD-Stadtverbandes, das nicht sehen: "Sicher, die SPD hat in der Vergangenheit oft konstruktiv mitgearbeitet. Das hat ihr bisweilen von den Wählern den Vorwurf eingebracht, von der CDU zu wenig unterscheidbar zu sein. Aber wenn es in der Kommunalpolitik um eine Straßenlaterne geht, die nicht leuchtet, muss man pragmatisch sein." Das bedeute ja nicht, dass die SPD mit der CDU immer einer Meinung sei. "Düsseldorf etwa bietet kostenfreie Kindergartenplätze, nicht aber Neuss. Wo ist denn da die soziale Großstadt mit Herz?", fragt der Katholik, der Ende der 70er Jahre nach Neuss kam, als die "SPD noch unter problematischen Bedingungen agieren" musste. Der Stadt selbst macht der gebürtige Wipperfürther eine Liebeserklärung: "Neuss ist eine kleinstädtische Variante mit den Vorteilen einer Großstadt."

Jakubassas Ziel für die SPD in Neuss: "Politischer Wechsel so schnell wie möglich." Der sei ein Wert an sich. "Wenn eine Stadt über Jahrzehnte von der gleichen Gruppe Menschen regiert wird, verfestigen sich Strukturen, die zu Fehlentwicklungen führen und für die Demokratie nicht förderlich sind."

Wann dieser Wechsel kommt, weiß Jakubassa nicht, meint aber: "Zehn bis 15 Jahre sind realistisch." Die nächsten Wahlen stehen 2014 an. Dann feiert die Neusser SPD 125-jähriges Bestehen.

(NGZ)
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