Premiere in Neuss Nahsicht auf ein fragiles Beziehungsgeflecht

Neuss · Im Studio des RLT wird das Stück „Vor dem Entschwinden“ in einer poetischen und bewegenden Weise inszeniert.

Die Erforschung des Spielzeitmottos „Was ist Familie?“geht am Rheinischen Landestheater in eine erste Endphase. Mit dem Stück „Vor dem Entschwinden“ wird der letzte Lebensabschnitt in seinem scheinbar stabilen, bei Nahsicht doch ziemlich fragilen Beziehungsgefecht beleuchtet. Der 40-jährige französische Autor Florian Zeller zieht dabei in vier Szenen alle Register eines tragikomischen Abschieds, von trotziger Griesgrämigkeit bis hin zu in Demenz gefangener Hilflosigkeit.

 Christiane Lemm als Madeleine und Heiner Stadelmann als André in „Vor dem Entschwinden“ von Florian Zeller.

Christiane Lemm als Madeleine und Heiner Stadelmann als André in „Vor dem Entschwinden“ von Florian Zeller.

Foto: MARCO PIECUCH

Seit über fünfzig Jahren sind André und Madeleine zusammen. Noch immer gehen sie liebevoll miteinander um, pflegen ihre Zweier-Rituale zwischen Gemüsebeet und Pilz-Omelette. Doch ihre erwachsenen Töchter Anne und Élise machen sich Sorgen, ob man die Eltern wirklich noch länger allein lassen soll. Beide sind zu einem Wochenende angereist, voller Liebe aber durchaus auch mit eigennützigen Motiven. Anne ist Schriftstellerin wie ihr Vater, nur längst nicht so berühmt. Jetzt bietet ein Verlag ihr die Chance, mit der Bearbeitung eines bisher unveröffentlichten Tagebuchs des Vaters bekannter zu werden. Élise hingegen hat gerade ihren letzten Freund gegen einen neuen ausgetauscht. Der ist Immobilienmakler und scharf auf das schmucke Anwesen der Eltern.

So weit die reale Handlung. Doch Florian Zeller  mag diese nicht einfach so dahin erzählen. „Das Theater ist der Ort für Fragen, nicht für Antworten“, erklärte er einmal. So kommt es, dass man sich in dem 80-minütigen Spiel immer wieder neu versichern muss, was denn gerade Realität und was nur Lebensträume sind. Zum Beispiel die Geschichte mit der Selbsttötung eines alten Paares im Pariser „Hôtel Lutecienne“. Nach Verzehr eines Pilzgerichts hatten sich die Beiden in ihr Zimmer zurückgezogen, wo man sie morgens tot auffand. André und Madeleine hatten in diesem Hotel ihre Hochzeit gefeiert. Das anfangs als Zeitungsnotiz präsentierte gemeinsame Entschwinden aus dem Leben könnte also zumindest als reale Idee durchgehen.

Die Inszenierung im Studio des RLT lag in den Händen von Tom Gerber, der auch für die Bühne und die Kostüme verantwortlich ist. Für die Besetzung der Rollen von André und Madeleine konnte er zwei renommierte Gäste gewinnen. Die in Berlin geborene Christiane Lemm gastierte bereits 2005 am RLT, Heiner Stadelmann ist seit Jahren Mitglied des Bochumer Ensembles und immer wieder im Fernsehen präsent.

Passend zu dem langen Leben des Paares verlegt Gerber einige Elemente zurück in die Jahre der Pariser Existentialisten, als Jean-Paul Sartre und Simone de Beauvoir ihre Ehekrisen in den angesagten Cafés zur Schau stellten. Als Nebenfigur tritt Madame Pfeife oder Madame Lapipe ins Geschehen, eine (vielleicht) ehemalige Geliebte Andrés. Die Schauspielerin Hergard Engel erinnert in Kostüm und Ton an jene Zeit. Bei Heiner Stadelmanns André kann sie aber nicht landen. Der Schriftsteller ist zu einem sympathischer Grantler gworden, der mit seinen scheinbar unfreiwilligen Irrungen und genau platzierten Pointen dem Premierenpublikum manche Lacher entlockte.

Christiane Lemm ist anfangs auf der zweigeteilten Bühne nur unscharf zu erkennen, als Körper auf einem Tisch, wie aufgebahrt. Dann aber übernimmt sie den energischen, lebensbejahenden Part des Duos. Juliane Pempelfort als Anne und Anna Lisa Grebe als Élise bescheiden sich trotz Textmenge in ihrem Auftritt bewusst mit der zweiten Darsteller-Reihe. Irgendwann sind sie wieder weg aus dem Leben der Alten, und die sind froh darüber. Endlich kann André sein Pilzgericht verzehren, dessen Duft schon lange den ganzen Studioraum füllte. Ein sehr bewegender, poetischer Abend.

Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort