Premiere im Theater am Schlachthof Neuss Wortreiches Sprachkonzert der Gesellschaft

Neuss · Marc Beckers Stück „Aus der Mitte der Gesellschaft“ in der Regie von Markus Andrae feierte am Theater am Schlachthof (TaS) Premiere.

Die erste Premiere zur neuen Spielzeit war ganz anders als sonst. Schließlich feiert das Theater am Schlachthof (TaS) ja auch ein Jubiläum: 25 Jahre besteht die innovative freie Bühne in Neuss. Zum Saisonauftakt gab es keine Komödie, keine „Rathauskantine“, kein musikalisches Entertainment und schon gar keinen Stunk. Und dennoch: Ein Sprachkonzert feierte Premiere, absurd, skurril, gelegentlich auch poetisch lustig.

 Karolin Stern, Daniel Cerman, Stefanie Otten und Lars Evers bewältigen ihren Text bravourös.

Karolin Stern, Daniel Cerman, Stefanie Otten und Lars Evers bewältigen ihren Text bravourös.

Foto: Justine Ritters

„Aus der Mitte der Gesellschaft“ von Marc Becker ist eine sprachgewaltige Reflexion über die deutsche Mittelschicht unserer Zeit. Viele der Zuhörer im ausverkauften TaS dürften eine gehörige Portion von sich selbst wiedererkannt haben.

Marc Becker, 1969 in Bremen geboren, ist Regisseur und Autor. Seine Vita verbindet ihn irgendwie mit dem TaS: Er begann seine Theaterkarriere in der freien Szene und verlegte sich aufs Inszenieren und Stückeschreiben. Sein Zwillingsbruder könnte Markus Andrae sein, seit 2012 künstlerischer Leiter des TaS.

Er hat Marc Beckers Stück inszeniert, das Personal von sieben Personen auf vier reduziert und manch Komödiantisches eingebaut. Stefanie Otten, Karolin Stern, Daniel Cerman und Lars Evers haben entsprechend gewaltig viel Text. Die Vier sind gut ausgebildet, haben – rein durchschnittlich – 1,37 Kinder und kleiden sich ebenfalls rein durchschnittlich. Wohnung, Inneneinrichtung, Auto – alles Durchschnitt: „Man fühlt sich so ... man weiß nicht wie!“ Rentenanspruch, Wirtschaftskrise, Klimawandel und, und, und... Da hilft nur die Hoffnung auf die „gute Perspektive“. Die aber ist im Supermarkt ausverkauft. „Und das war‘s dann. Alles wär‘ anders, wenn Elvis noch leben würde!“

Jeder Spieler hat einen großen Monolog. Lars Evers macht den begeisternden Anfang: „Wir tun so, als ob wir was zu sagen hätten, und sagen nur ‚Ich, ich, ich!“. Und zum Publikum gewandt: „Möchte jemand meine Meinung teilen?“ Später philosophiert Evers inmitten des Publikums über Macht und Kohle: „Kann mir da jemand von Ihnen helfen?“

Für die vielfache Interaktion mit dem Publikum ist Markus Andrae verantwortlich: Seine Lust, Theater und Kabarett unter einen Hut zu bringen, steht so nicht im Stück. Das Sprachkonzert ist zudem sehr aktuell. Marc Becker inszenierte die Uraufführung 2010 am Oldenburgischen Staatstheater. Die Sprache ist von heute, dabei ist Gewalt ein Sprachproblem, mit dem sich gut kommunizieren lässt.

„Das gesellschaftliche Schwein bestimmt das Bewusstsein.“ Härtere Gesetze müssen dem begegnen und gerechte Strafen: „Erschießen!“ Die Stimmen werden zum Sprachrohr einer dekadenten Gesellschaft, die einst die Mitte war.

Diesem Kulturpessimismus begegnet Markus Andrae auflockernd mit Tanzeinlagen, die von den Spielern gekonnt vollführt werden, etwa in der vitalen Performance „Kleidung ist politisch!“ Außerdem gibt es noch die schönen Momente, wenn man den Neid in den Augen der Mitmenschen sieht. „Ich will der Traum der Andern sein!“

Das gewaltige Sprachpensum beherrschen Stefanie Otten, Karolin Stern, Daniel Cerman und Lars Evers vollkommen. Vom Stück her fehlende Action wird durch Gestik und ausgeprägte Mimik vollauf kompensiert. Markus Andrae hat mit Assistenz von Monique Latour behutsam inszeniert, dabei die erwähnten Ergänzungen ins Komödiantische sowie tänzerische Elemente, die aber das Absurde des Stückes betonen, eingefügt: „Unser Zielpublikum soll sich vollkommen mit dem Stück identifizieren können“, sagt er.

An die Bühne gab es keine großen Anforderungen: Wenige Hocker als Sitzgelegenheiten reichten aus. Stefanie Otten saß ohnehin am liebsten auf dem Bretterboden. Auch die zeitgemäßen Kostüme (Stefanie Klein) überforderten das Budget nicht.

Trotz vieler Anreize zur Nachdenklichkeit verließ ein froh gestimmtes Publikum das TaS. Dabei hatten die meisten Zuschauer das hoffnungsvolle Ende gar nicht mehr mitbekommen: Ein Lkw liefert die „gute Perspektive“ wieder in den Supermarkt.

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