Neuss Als Vorleser der beste Werber für sein Buch

Neuss · Ilija Trojanow, in Bulgarien geboren, in Deutschland und Afrika aufgewachsen, erzählte und las von "Macht und Widerstand".

Ein bisschen mehr Durchhaltevermögen, und Alwin Müller-Jerina hätte einen bleibenden, weil schriftlichen Eindruck bei Ilija Trojanow hinterlassen. So aber stoppte der Leiter der Stadtbibliothek auf halber Strecke, als er nämlich zugab, irgendwann dann doch mit dem Zählen aufgehört zu haben. Zählen bei einem Schriftsteller - da kann es nur um die Menge der veröffentlichten Werke gehen, und genau die begann Müller-Jerina im Gespräch mit dem Schriftsteller aufzulisten: 34 Bücher als Autor, in 20 Sprachen übersetzt, 25 in der Funktion eines Herausgebers, sieben Übersetzungen anderer Autoren, 25 Preise gewonnen. Trojanow hörte zu und kommentierte die Fleißaktion dann schmunzelnd: "Kann ich eine Kopie haben?" Doch leider fehlten Essays, Vorträge und sonstige Veröffentlichungen, so wurde aus dem Deal nichts.

So locker und humorig der Einstieg in die Lesung beim Literarischen Sommer auch war - die Geschichte, die Trojanow in seinem Roman "Macht und Widerstand" beschreibt - dokumentiert passt fast besser, da die fiktive Erzählung über zwei Menschen eine reale Basis hat -, ist alles andere als witzig und locker. Eigentlich ist sie traurig, desillusionierend, denn sie spielt über einen Zeitraum von 50 Jahren im postkommunistischen Bulgarien. Wo die Chance auf einen wirklichen Neustart nach 1989 vertan wurde, was Trojanow seinen Zuhörern mit großer Bestimmtheit erläutert. Anders als in der DDR agierten in vielen Ostblock-Ländern noch die Seilschaften aus kommunistischer Zeit.

Die Macht hat, wer über die Vergangenheit herrscht, lässt er seine Buchfigur, den früheren Geheimdienstler Metodi sagen, und dann erzählt der 1965 in Sofia geborene Trojanow, wie er das Material zu seinem Roman zusammengetragen hat. Etliche Gespräche hat er geführt, mit Tätern und mit Opfern, von denen ihm viele Auszüge aus ihren Geheimdienstakten, an die sie in jenem kleinen Zeitraum herankamen, als die Archive wirklich geöffnet waren, zur Verfügung stellten. Anders als nach dem Zusammenbruch der DDR seien die Stasiakten in Bulgarien aber niemals in eine unabhängige Institution überführt worden. Was eine allgemein zugängliche Aufarbeitung der Vergangenheit unmöglich gemacht habe, ergänzt der Autor, dessen Eltern mit ihm als Sechsjährigen nach Deutschland geflohen sind. Auch wenn er noch klein war, als sie gingen - allein über die Briefe der zurückgebliebenen Großeltern ist das Land Heimat für ihn geworden. "Ich bin draußen und drinnen", sagt er, "was die beste Position für einen Romanautor ist."

Ilija Trojanow erweist sich als bester Werber für sein Werk. Nicht nur, weil er fesselnd, verständlich, klar und humorvoll über die Geschichte selbst und die Umstände, unter denen sie entstanden ist, erzählt. Er ist auch ein wunderbarer Vorleser, wechselt die Tonlage je nach Figur, die in Ich-Form vom Früher und vom Jetzt erzählt, so dass wie von selbst ein geschlossener Charakter vor dem inneren Auge heranwächst. Da muss man schon aufpassen, dass kleine sprachliche Finessen wie die Bezeichnung "Gehstockträumer" für den mittlerweile alt gewordenen Widerständler Konstantin nicht durch die Lappen gehen.

Und wer das Buch (immerhin mehr als 450 Seiten stark) erst nach dieser Lesung zur Hand nimmt, wird vermutlich die Stimmen Metodis und Konstantins genauso im Kopf haben, wie Trojanow sie moduliert hat.

(hbm)
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