Stadtgeschichten (67) Als der Karneval gesellschaftsfähig wurde

Neuss · Der Karnevalsausschuss ist dabei, die Geschichte des Karnevals aufzuarbeiten. Immer neue Funde, wie ein Inserat für eine Sitzung im Stadtgarten-Restaurant, helfen dabei. Es beleuchtet auch die untergegangene Gesellschaft "Schwamm dröver".

Historische Bilder vom Neusser Karneval
3 Bilder

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Die Stadthalle, das Zeughaus und die großen Säle etwa des Swissôtels sind heute gemeint, wenn vom Sitzungskarneval die Rede ist, der für diese Session gestern mit der Star-Revue der Blauen Funkenbeendet wurde. Früher hatten die Neusser Narren andere Treffpunkte, Sehr beliebt war das Stadtgarten-Restaurant. Die Bomben des Zweiten Weltkriegs setzten ihm ein Ende. Ein Wiederaufbau nach Kriegsende blieb aus.

Die fast einzige Erinnerung an dieses Lokal ist — außer einigen Ansichtskarten und Fotos — eine historische Kaffeetasse des einstigen Betreibers Neckenich im Bestand von Haus Rottels. Doch sie ist der Öffentlichkeit entzogen. Um so erfreulicher ist eine nun zutage getretene Werbeanzeige mit Bezug zu diesem Lokal und dem traditionsreichen Neusser Karneval.

In ihr wirbt die Große Neusser Karnevalsgesellschaft "Schwamm dröver" von 1877 für ihre II. Gala-Damensitzung mit Ordensverleihungen am 8. Februar 1925. Das Inserat verspricht: "Von Zoten frei die Narretei!" Der Karneval war schon "fein" geworden und längst nicht mehr, wie Jürgen Huck in seinem Buch "Kultur in Neuss" die "Neußer Zeitung" am 7. März 1889 zitiert, "eine Domäne des Plebses, sondern ein Gemeingut für alle Stände".

Eine Nachfahrin des in Neuss einst populären Adalbert Keldenich stellte dieses Inserat zur Verfügung. Funde wie diese helfen dabei, die Geschichte des Neusser Karnevals sukzessive aufzuarbeiten.

Dieser Aufgabe stellt sich auch der Karnevalsausschuss als Dachverband der meisten Neusser Karnevalsgesellschaften, der seit einigen Jahren dabei ist, ein eigenes Archiv aufzubauen. Zunächst am Glockhammer untergebracht, zog es inzwischen an die Breite Straße um. Dort wird auch — in Kopie — der Beleg verwahrt, der karnevalistisches Treiben schon im Jahr 1845 belegt. So eine "Närrische Speisenkarte", die neben "Gebläutem Manes mit Bärentazen" und "gegeisseltem Erholungsfutter" auch "Dampfenden Kribbelkopp" oder "Grunzende Böckemschnute" offeriert.

Für die Anfänge des organisierten Karnevals in Neuss steht der Neusser Carnevals-Verein, der schon im Januar 1845 im "Neußer Intelligenzblatt" Einladungsanzeigen annoncierte. Bis zum Ende des 19. Jahrhunderts kamen zahlreiche andere dazu, mit so klingenden Namen wie "Gesellschaft Ulenküken", "Steckelpäd", oder "Nordpol". Doch bis zum Ersten Weltkrieg war kein Verein darunter, so hält Jürgen Huck fest, der das ganze Jahr über als solcher Bestand hatte. 1925, als "Schwamm dröver" zu seiner Gala-Damensitzung einlud, war das schon anders.

Das Jahr 1925 war auch das Jahr, in dem das Rheinland der 1000-jährigen Zugehörigkeit zum Reich gedachte, ein nach dem Ersten Weltkrieg viel beachtetes patriotisches Ereignis. Damals fand die von dem Neusser Museumsdirektor Doktor Wilhelm Ewald mitgestaltete sogenannte Jahrtausend-Ausstellung in Köln einen außerordentlichen Zuspruch. Der Kunsthistoriker Max Creutz fasste dies 1962 in die Worte: "Vielen Neugierigen nur ein äußeres Schaugepränge, war ihr Sinn, aus der Tiefe der Vergangenheit, des rheinischen Volkes Sendung stärker wieder lebendig zu machen." Denn nirgendwo seien die Vergangenheit deutscher Kunst und Kultur so lebendig wie am Rhein. "Jahrhunderte hindurch herrschte hier eine Fülle schöpferischer Kraft". Diese fand eine Ergänzung im fröhlichen Treiben der Narren. Da bildete Neuss keine Ausnahme.

Die von Köln zugezogenen Keldenichs sorgten vornehmlich in den 1920er Jahren dafür. 1925, so hält eine Notiz aus der "Neußer Zeitung" fest, war es Adalbert Keldenich, der die Gesellschaft "Schwamm dröver", die 1884 "den letzten großen Redewettstreit" veranstaltet hatte, ihre Auferstehung feiern ließ. 1929 wurde er Gründer-Präsident der längst versunkenen Karnevalsgesellschaft "Lachende Funken Rot-Weiß". Und auch nach 1945 blieben die Keldenichs im Karneval tonangebend.

Für die Veranstaltung 1925 "im festlichen geschmückten Saale des Stadtgarten-Restaurants" wurde das Beste aufgeboten, was Küche unde Keller zu bieten hatten. Obwohl bereits 1877 gegründet, passte der Name der Gesellschaft — Schwamm dröver — ausgezeichnet zu den Zeitumständen. Immerhin waren 1925 noch elf Prozent der Neusser Bevölkerung auf die öffentliche Fürsorge angewiesen. 1914 betrug deren Zahl ein Prozent. "Schwamm dröver" bedeutete "nicht daran denken". 1925 war aber auch das Jahr in dem in Köln, das unter englischer Besatzung stand, erstmals wieder Maskenbälle erlaubt waren.

(NGZ/ac/url)
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