Neuss Als Auszubildender "nicht vorgesehen"

Neuss · Grad der Behinderung: 100 Prozent. Der Schwerbehindertenausweis von Stefan Schröder lässt zunächst wenig Spielraum für Interpretationen. Ein einfaches Leben sieht anders aus. Das Handicap des jungen Dormageners: Er ist 1,25 Meter groß. Das unterscheidet ihn von seinen Freunden, mehr aber auch nicht: Ausbildung, Beruf, ein eigenes Leben, Stefan Schröders Ziele sind so ungewöhnlich nicht.

 Stefan Schröder, Mitte, und seine Azubi-Kollegen im Büro von Zülow Elektronik in Neuss: Derzeit arbeitet der 26-Jährige in der Personalabteilung des Unternehmens mit Sitz auf Gut Gnadental.

Stefan Schröder, Mitte, und seine Azubi-Kollegen im Büro von Zülow Elektronik in Neuss: Derzeit arbeitet der 26-Jährige in der Personalabteilung des Unternehmens mit Sitz auf Gut Gnadental.

Der Weg dorthin ist es schon: Ein Praktikum im vergangenen März bei Zülow Elektronik in Neuss soll ein erster Schritt sein. Stefan Schröder gefällt's, seiner Chefin, der Unternehmerin Jutta Zülow (60), ebenfalls. Sie ist beeindruckt von dem jungen Mann, der trotz seines Handicaps ehrgeizig sein Ziel verfolgt. Auch den Hauptschulabschluss hat er aus eigener Initiative nachgeholt. "Dass ich das schaffe, hat außer meinen Eltern niemand geglaubt, aber es hat geklappt", sagt der 26-Jährige. "Ohne Hauptschulabschluss hätte ich doch gar keine Chance, einen echten Job zu bekommen."

Das Team im Zülow-Büro lernt seinen neuen Praktikanten schnell zu schätzen. Nach einigen Wochen steht die Entscheidung: Der junge Mann aus Dormagen soll bei Zülow einen Ausbildungsplatz bekommen. Die Wunschvorstellung: Bürokraft, eine zweijährige Ausbildung in Betrieb und Berufsschule oder einer Einrichtung der beruflichen Rehabilitation.

Als Jutta Zülow den Mitarbeitern des Integrationsfachdienstes, die Stefan Schröder betreuen, von dem Ausbildungsangebot berichtet, rechnet sie mit allen möglichen Reaktionen, aber nicht mit dieser: Nein. Eine Ausbildung zum 1. September sei nicht möglich, das, so erinnert sich Jutta Zülow an das Gespräch mit Schröders Betreuer, "sehe die Maßnahme nicht vor". Stefan Schröder sei für eine Tätigkeit bei den Gemeinnützigen Werkstätten Neuss (GWN) eingeplant.

Der allerdings hat andere Pläne: "So eine Werkstatt, das wäre nichts für mich." Der junge Mann will einen "ganz normalen Job". Jutta Zülow ist empört: "Was in diesem Unternehmen geht und was nicht, und wer hier ausgebildet wird und wer nicht, das bestimme ich – und das seit 39 Jahren." Der Einwand des Integrationsfachdienstes: Stefan Schröder sei getestet worden. Das Ergebnis: nicht ausbildungsfähig. Erst auf Nachfrage Zülows werden Einzelheiten des Test bekannt. Stefan Schröder hatte sich als Beikoch versucht. "Dass das mit 1,25 Meter Größe schwierig ist, ist doch klar. Über seine Qualifikation in einem Büroberuf sagt das nichts." Jutta Zülow versteht die Welt nicht mehr.

Und das wird nicht besser, als ihr der Integrationsfachdienst ein Angebot unterbreitet: Wenn sie Stefan Schröder ausbilden wolle, müsse sie ihn zunächst sechs Monate im Tariflohn für den Beruf beschäftigen, in dem er eigentlich erst ausgebildet werden müsste. "Da wird doch der Hauptmann von Köpenick neu geschrieben: keine Arbeit – kein Pass, kein Pass – keine Arbeit. Jetzt heißt es: keine Lehrstelle – kein Tariflohn, kein Tariflohn – keine Lehrstelle", Jutta Zülow wendet sich an die Industrie- und Handelskammer (IHK) Mittlerer Niederrhein und den Landschaftsverband Rheinland (LVR) – zunächst ohne Erfolg in der eigentlichen Sache. Dafür folgt ein zweites Angebot: 4000 Euro Prämie und hohe Zuschüsse, wenn Stefan Schröder bei Zülow arbeiten würde.

Arbeit allerdings bedeutet in diesem Fall nicht Ausbildung. "Ich wollte kein Geld, ich wollte einen Ausbildungsvertrag", Jutta Zülow bleibt hart – und muss sich dafür unangenehme Fragen gefallen lassen. So sei zum Beispiel erst einmal die soziale Kompetenz des Unternehmens Zülow Elektronik zu prüfen. Schließlich bestehe ja die Möglichkeit, dass ein Arbeitgeber Stefan Schröder ausnutze.

Auch bei der IHK sind Hürden zu überwinden. Der anvisierte Ausbildungsgang existiere nicht, wird Jutta Zülow mitgeteilt. Verweise auf entsprechende Ausbildungsmodelle anderenorts nützen nichts. Alternativangebote? Fehlanzeige. "Da war der falsche Mensch am falschen Platz", vermutet Jutta Zülow. Grundsätzlich seien die Erfahrungen mit der IHK nicht schlecht.

Über Kontakte in Unternehmensverbänden und einem sozialen Netzwerk, in dem sich die Unternehmerin unter anderem mit der Aktion Tandem für gemeinsame Sport- und Freizeitaktivitäten Behinderter und Nicht-Behinderter engagiert, aber auch Schülern über das Projekt "Wirtschaft pro Schule" den Weg ins Berufsleben ebnet, holt sie Meinungen zum "Fall Schröder" ein. "Der Landschaftsverband reagierte entsetzt", erinnert sich Jutta Zülow. IHK-Hauptgeschäftsführer Dr. Dieter Porschen schaltet sich ein. Schließlich zeichnet sich als einfachster Weg statt der Ausbildung in einem "Reha-Beruf" wie dem Büropraktiker eine "normale" Lehre zum Bürokaufmann ab. Jutta Zülow schließt den Vertrag mit Stefan Schröder, trotz erneuter Unkenrufe unter anderem wegen fehlender Englischkenntnisse des jungen Mannes.

Als Hindernis erweist sich das letztlich nicht: Erst soll der LVR Nachhilfe finanzieren, doch die Unternehmerin aus Gnadental will nicht länger warten und bitten. "Ich habe meinen Geburtstag in diesem Jahr nicht groß gefeiert, sondern allen meinen Mitarbeitern Englischkurse geschenkt." Davon profitiert jetzt auch Stefan Schröder. Unterstützung kommt zudem von seinen Azubi-Kollegen: Lisa Neu (22), im zweiten Ausbildungsjahr zur Kauffrau für Bürokommunikation, ist in der Berufsschule an der Weingartstraße eine der Besten. Jetzt hilft sie Stefan Schröder, zum Beispiel wenn Rechnungswesen auf dem Stundenplan steht.

Jutta Zülow hat nach den ersten Wochen mit ihrem neuen Auszubildenden keinen Zweifel: "Es läuft." Sie sieht sich in ihrer Einstellung bestätigt: "Über einen Menschen entscheidet die Geschichte, nicht ein Sachbearbeiter."

Ob Stefan Schröder auch in anderen Unternehmen eine Chance bekommen hätte? Jutta Zülow bezweifelt es. "Und das nicht, weil sie es nicht wollten, aber dafür fehlt vielen mit Sicherheit einfach die Zeit." Ihre Hand liegt auf einem dicken Aktenordner – Papierkrieg einer Chefin, die eigentlich nur einen neuen Azubi einstellen wollte: "Ist das eigentlich noch normal?"

Ist es nicht, kann aber passieren – das ist, kurz gefasst, die Stellungnahme der beteiligten Institutionen. "Natürlich bleibt es bei dem Ziel der Vermittlung in den ersten Arbeitsmarkt", sagt Oliver Carouge, Fachberater für Integration der IHK Mittlerer Niederrhein. Im Regelfall sei die Unterstützung der Reha-Träger und Beratungsinstitutionen unbürokratisch und effektiv. Der Fall von Jutta Zülow und Stefan Schröder sei in dieser Hinsicht bedauerlich, aber untypisch.

Ähnlich auch die Einschätzung von Martin Bickel, Geschäftsführer des Berufsbegleitenden Dienstes und Leiter des Integrationsfachdienstes für den Rhein-Kreis, der mit der Agentur für Arbeit und auch dem LVR kooperiert. Seine Aufgabe: Arbeitgeber, Arbeitnehmer und Arbeitssuchende vor, während und nach der Einstellung von Menschen mit Behinderung beraten. Dazu gehört auch die im Sozialgesetzbuch verankerte "Unterstützte Beschäftigung". Arbeitnehmer, die auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt keine Chance hätten, können sich dabei auf "Erprobungsarbeitsplätzen" qualifizieren. "Wir unterstützen die Menschen sehr intensiv. Auf einen Betreuer kommen nur fünf Klienten", sagt Bickel. Das Ziel auch hier: der allgemeine Arbeitsmarkt. Das Problem: "In einem solchen Prozess sind in jedem Einzelfall viele Institutionen eingebunden. Hinzu kommen komplexe Rechtsvorschriften und diverse Fördertöpfe verschiedener Kostenträger – alles in allem: jede Menge Schnittstellen."

Bürokratische Hürden seien ohne Zweifel vorhanden: "Das System verlangt es so", sagt Bickel. Die Spielregeln seien nicht immer leicht zu durchschauen und zudem noch einem stetigen Wandel durch die Gesetzgeber unterworfen. Nur wer Schritt für Schritt vorgehe, habe Aussicht auf Erfolg. Und der sei so selten nicht: In etwa der Hälfte der Fälle gelinge die Integration in die "normale" Arbeitswelt.

Dass Unternehmer damit trotzdem Probleme haben, kann sich Bickel durchaus vorstellen: "Bestimmte Abläufe sind nur schwer transparent zu machen. Da verstehe ich die Arbeitgeber schon."

Jutta Zülow will sich (noch) nicht abschrecken lassen, sie drängt jedoch auf Reformen: "Dass Menschen mit Behinderung besondere Unterstützung benötigen, ist unbestritten. Zu vieles ist jedoch gut gemeint und schlecht gemacht." Wenn sich das nicht ändere, seien die Chancen, mehr Menschen mit Handicap in die Arbeitswelt zu integrieren, gering. Und das, sagt die Neusser Unternehmerin, sei ein großer Verlust: "Denn das Potenzial dieser Menschen ist groß, ihr Engagement und ihre Identifikation mit der Firma oft überdurchschnittlich." Trotz aller Hilfen und Beratungsangebote: Für Jutta Zülow klafft mit Blick auf die Integration von Menschen mit Behinderung in den allgemeinen Arbeitsmarkt eine große Lücke zwischen Anspruch und Realität.

Die Erkenntnis wächst – auch nachdem der Ausbildungsvertrag endlich unter Dach und Fach ist. Ein Beispiel: Die Anfrage nach Hilfe bei der Einrichtung eines auf Stefan Schröder zugeschnittenen Arbeitsplatzes. "Wir bekamen den Hinweis, doch einfach einen Kinderschreibtisch zu kaufen. Wie gesagt: Gut gemeint, schlecht gemacht." Jetzt bekommt Stefan Schröder einen speziellen Stuhl, mit dem er an jedem normalen Schreibtisch arbeiten kann. Mit dessen Hilfe sitzt er höher. An persönlicher Größe gewinnt er – als ein Auszubildender wie andere auch – inzwischen von ganz allein.

(NGZ)
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