Neukirchen-Vluyn Das Weihnachtsfest nach dem Taifun

Neukirchen-Vluyn · Der Neukirchen-Vluyner Christian Esser gehört zu den Männern und Frauen, die nach dem Taifun Hayian auf den Philippinen als Mitglieder eines I.S.A.R.-Teams Hilfe leistete. Ohne Familie und Freunde wäre der beispiellose Einsatz nicht möglich gewesen.

 Christian Esser im heimatlichen Wohnzimmer mit den Töchtern Larissa (11) und Inja (8,r.) sowie Ehefrau Michaela.

Christian Esser im heimatlichen Wohnzimmer mit den Töchtern Larissa (11) und Inja (8,r.) sowie Ehefrau Michaela.

Foto: Klaus Dieker

Auf dem Wohnzimmertisch der Familie Esser brennen vier Kerzen auf dem Adventskranz. Die Dämmerung bricht herein, und aus einer Nikolaus-Tasse steigt der Duft von Kräutertee. Es weihnachtet sehr hier am Rande von Neukirchen-Vluyn. Nur einige kleine Details passen nicht recht ins festliche Ensemble. Da ist dieses tellergroße Stück Blech, dessen rasiermesserscharfe Ränder sägezahnartig ausgefranst sind. Gleich daneben liegen gefärbte Scherben dicken Glases. "Das", sagt Christian Esser (40) und deutet auf das Metall "stammt aus den Dächern der Häuser von Ticlaban, und das Glas sind Teile des ehemaligen Kirchenfensters." Esser, hauptberuflich Feuerwehrmann in Krefeld, hat die Trümmerteile von seinem Einsatz auf den Philippinen mitgebracht, wo er für die Hilfsorganisation I.S.A.R. ein Lazarett aufbaute, das bis heute arbeitet.

 Christian Esser versorgt in Tacloban einen Verletzten.

Christian Esser versorgt in Tacloban einen Verletzten.

Foto: I.S.A.R

Am Abend des 7. November war der Taifun Hayian mit Windgeschwindigkeiten bis zu 380 km/h auf die Philippinen getroffen.Er fegte hinweg, was sich ihm in den Weg stellte. Die Philippinen waren vom stärksten Taifun in der Geschichte der Wetteraufzeichnungen getroffen worden. Am Morgen des 9. November richtete I.S.A.R.-Chefin Daniela Lesmeister ihr Lagezentrum in Moers ein. Noch am selben Vormittag traf gegen elf Uhr eine SMS bei Christian Esser ein. Wenige Stunden später war er schon auf dem Weg nach Frankfurt, von wo die I.S.A.R.-Maschine, beladen mit einem Lazarett und Hilfsgütern, in die Krisenregion starten sollte.

Für den 40-jährigen war es der zweite Auslandseinsatz im Dienste von I.S.A.R.. 2007 war der Feuerwehrmann zu der Truppe von Rettungsspezialisten gestoßen. Kurz zuvor hatte die UNO die Organisation zertifiziert. Freunde arbeiteten schon bei I.S.A.R mit. Feuerwehrleute sind dort als Rettungsspezialisten hoch willkommen. 2009 hatte Esser seinen ersten Einsatz: ein Erdbeben in Sumatra. Eine Katastrophe, deren Auswirkungen lange nicht mit der von Hayian zu vergleichen waren. Gut für einen Neuling, möchte man meinen. Tatsächlich hat Esser sehr intensive Erinnerungen an Land und Leute zurückbehalten, viel intensivere als auf der Philippinen-Insel Leyte, wo das I.S.A.R.-Team bis an die Grenzen der Erschöpfung Wunden versorgte und Verbände wechselte. Aber während der Arbeit auf Sumatra erfuhren Esser und seine Frau Michaela (41) auch, dass selbst hoch professionell vorbereitete Auslandseinsätze wie die von I.S.A.R nicht ohne Gefahr sind: Ein Auto fuhr Christian Esser an und. Lebensgefahr bestand nicht, aber für die Ehefrau blieb der Vorfall doch eine einschneidende Erfahrung: "Seitdem ist immer auch ein Stück Angst da", sagt die Mutter zweier Töchter, Larissa (11) und Inja (8).

Vielleicht hätten andere Frauen ihrem Ehemann nach einem solchen Zwischenfall die rote Karte für künftige Auslandsabenteuer gezeigt, aber Michaela Esser ist die Tochter des ehemaligen Moerser Oberbrandinspektors Horst Steinkamp und war selbst Leiterin der Jugendfeuerwehr in Moers. Sie weiß, dass das Helfen zu einer Aufgabe werden kann, der man sich manchmal nicht entziehen kann.

So war es keine Frage, dass Esser wieder ausrücken würde, als die SMS ihn nach Frankfurt rief. I.S.A.R hat solche Einsätze vielfach auf dem Übungsgelände in Weeze und bei internationalen Treffen im Ausland durchgespielt. Da steht die Logistik. Innerhalb von Stunden ist das Team abflugbereit. Doch auch für die einzelnen Mitglieder und ihre Familien ist die plötzliche Abreise eine Herausforderung. Da muss zunächst die Arbeits- oder Dienststelle informiert werden. Nicht jeder ist in der glücklichen Lage wie Esser, dessen Arbeitgeber ihn problemlos freistellt. Vor allem aber bedeutet der Ausfall des Vaters eine Änderung im Familienleben. "Wir hatten unseren Alltag so organisiert, dass ich meist dann gearbeitet habe, wenn mein Mann zu Hause war", berichtet Michaela Esser. "Das ging auf einmal nicht mehr. Zum Glück sind unsere Eltern und Freunde eingesprungen und haben mir die Kinder abgenommen, wenn ich arbeiten musste und sie aus der Schule kamen." Ohne ein stabiles häusliches Umfeld würde es für die Helfer sehr schwierig werden.

Denn die physischen und psychischen Belastungen sind enorm. Esser erinnert sich noch gut daran, wie sein Team nach tagelangen Wartens in Manila endlich um vier Uhr morgens auf dem völlig zerstörten Flughafen im Katastrophengebiet ankam und in stockfinsterer Nacht sein Lager auf einer versumpften Wiese aufschlug und die Ladung wasserdicht verstauen musste: "Am nächsten Morgen merkten wir, dass wir mitten in der Landezone schwerer US-Kampfhubschrauber lagerten. Uns flogen beinahe die Zelte um die Ohren."

Nach einem Rundflug entschloss sich das medizinische Hilfsteam, das Lazarett in Tacloban unmittelbar neben der Kirche aufzuschlagen. Dort war ein Bereich bereits von Trümmern freigeräumt worden. "Vermutlich, weil man dort unmittelbar nach dem Unglück die Leichen gelagert hatte", sagt Esser. Die Wahl erwies sich als richtig: Vom ersten Tag an riss der Strom der Patienten nicht ab. Schon um acht Uhr morgens sammelten sich lange Schlangen vor dem Lazarett. Bis auf eine Krankenstation waren alle Hospitäler komplett zerstört worden. "Niemand hat gejammert, niemand hat geklagt", sagt Esser.

Dann klappt er einen Rechner auf. Er zeigt Fotos von fünf, sechs Tage lang unversorgten Wunden, die durch den Taifun zu Schrapnellgeschossen mutierten Blechfetzen und Scherben geschlagen haben. 2400 Menschen wurden in der Zeit, in der I.S.A.R. auf der Insel Leyte tätig war, im Lazarett behandelt.

Viele von ihnen werden auch in den nächsten Monaten noch auf das Behelfskrankenhaus angewiesen sein. I.S.A.R. hat die komplette Einrichtung an den Arbeiter-Samariterbund übergeben, der das Lazarett nun weiter betreibt.

Esser selbst kehrte nach zwölf Tagen im Katastrophengebiet nach Deutschland zurück. Schon auf den Philippinen hatte er von den Spendenaktionen in der Heimat gehört. Aber die Aktion der Volksbank-Kunden und der Leser unserer Zeitung, die inzwischen deutlich über 100 000 Euro zusammengebracht hat, verschlug ihm doch die Sprache. "Für uns sind diese Spenden so wichtig", sagt er. "Jetzt können wir in Weeze wieder alles für den nächsten Einsatz aufbauen."

Zudem plant I.S.A.R. ein Aufbauprojekt für die Philippinen. Daniela Lesmeister und ihre 150 Mitstreiter wollen sich Zeit lassen mit der Vorbereitung, damit das Geld möglichst effektiv genutzt wird.

Doch sollte morgen irgendwo auf der Welt eine Region von einem Erdben oder von einer Flutwelle heimgesucht werden, würden die I.S.A.R.-Leute keine Sekunde zögern. "Ich wär' wieder dabei", sagt Christian Esser und streicht seiner jüngsten Tochter über den Kopf.

(RP)
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