Lobberich Wie Lobberich Industriestadt wurde

Lobberich · Von de Ball, van der Upwich und Niedieck ist heute fast nichts mehr übrig geblieben.

 Das Verwaltungsgebäude von Niedieck vor dem Abriss in einer Aufnahme aus dem Januar 2013. Der Park rechts ist erhalten geblieben.

Das Verwaltungsgebäude von Niedieck vor dem Abriss in einer Aufnahme aus dem Januar 2013. Der Park rechts ist erhalten geblieben.

Foto: Busch, Franz-Heinrich sen. (bsen)

Als die Samtfabrik Niedieck im Jahr 1955 ihr 100-jähriges Bestehen feierte, machte die Gemeinde Lobberich der Firma ein Geschenk: Sie benannte die Bahnstraße in Niedieckstraße um. Hier lag neben der Van der Upwich-Villa das stattliche Firmengebäude, auf dessen Gelände später immer neue Hallen über die Färberstraße (einst Neustraße) hinaus entstanden. Nach der kommunalen Neugliederung wurde 1970 aus der Oirlicher Straße die De-Ball-Straße; als das Gewerbegebiet Heidenfeld erschlossen wurde, entstand auch eine Van der Upwich-Straße.

Auch bedankte sich die Gemeinde Lobberich beim langjährigen Girmes-Chef Erich Selbach, der im Park neben der Van der Upwich-Villa wohnte, mit einer Straßenbenennung im Heidenfeld, als das Unternehmen dort Häuser für seine Mitarbeiter baute. Im ersten wohnte dann der Textilgewerkschaftsfunktionär Toni Pollen.

Mit den Straßenbezeichnungen hat Lobberich schon zu Lebzeiten der Textilindustrie an seine Ursprünge erinnert, denn bürgerliche „Textilbarone“ haben den Ort ab Mitte des 19. Jahrhunderts groß gemacht. Lobberichs Bürgermeister Heinrich Kessels, der auch Rittergutbesitzer (Burg Ingenhoven) und Gastronom („Hotel Stadt Lobberich“) war, muss ein gutes Gespür für Wirtschaftsförderung gehabt haben, denn er unterstützte mit Vehemenz die Ansiedlungswünsche der Brüder Victor und Felix de Ball, die in Geldern ein Manufakturwarengeschäft besaßen und schon Geschäftsbeziehungen zur heimischen Siamosenfabrik der Brüder Jacob und Quirin Heydthausen unterhielten. Das 1845 gegründete Geschäft in Räumen an der Breyeller Straße lief dann bald so gut, dass auch Lehrlinge ausgebildet werden konnten, unter ihnen Hermann Reifenstuhl, Hermann van der Upwich und Julius Niedieck.

Seine erste Firma gründete Julius Niedieck als 21-Jähriger 1855 mit dem Webermeister Theodor Mommers, in die dann auch sein zwei Jahre jüngerer Bruder Karl nach seiner Ausbildung in Lyon in Frankreich einstieg. Ende der 1870er Jahre schieden die de Ball-Brüder aus ihrem Unternehmen aus, das in den folgenden Jahrzehnten von den Familien van der Upwich und Reifenstuhl geführt werden sollte.

Fabrikräume für Niedieck entstanden an der oberen Breyeller Straße (heute teilweise Möbel Busch und Baubetriebshof) und an der Süchtelner Straße (Hauptschule). Hier wurde mit der Entwicklung des mechanischen Doppelsamtwebstuhls eine technische Revolution eingeleitet. An die de Ball-Hallen an der Bahnstraße zog Niedieck erst Mitte der 1930er Jahre, als das Unternehmen zur Girmes-Gruppe gehörte – wie de Ball seit Ende der 1920er Jahre auch. Zahlreiche Krisen haben die Unternehmen, die mit ihren Samt- und Seidefabrikaten Weltgeltung hatten, immer wieder überstanden, doch im Jahre 2004 ging auch der Girmes-Konzern, einst Jahrzehnte lang der „weiße Rabe der Textilindustrie“, in die Insolvenz; bei Niedieck war vorher schon massiv die Produktion abgebaut worden.

Die Gebäude stehen heute nicht mehr, hier sind inzwischen Wohnungen, eine Kindertagesstätte und ein Seniorenheim gebaut worden (Niedieck-Wohnpark). Von de Ball ist ein Firmengebäude auf der westlichen Seite übriggeblieben, das zuletzt von der Krawattenweberei Birgelen und vom Teppichbodenhersteller Longlife genutzt worden war. Hier werden gegenwärtig Lofts eingerichtet.

Es gibt aber auch noch eine J.L. De Ball GmbH in der ehemaligen Weberei der Dietrich Girmes GmbH in Hinsbeck-Wevelinghoven, die Stoffe aus Fernost vertreibt. Der Name de Ball war auch nach dem Zweiten Weltkrieg auf Auslandsmärkten sehr hilfreich, da er französisch klang und nicht gleich an Nazi-Deutschland erinnerte.

Als Julius Niedieck 1895 starb, war er Kommerzienrat und hatte für den Tod vorgesorgt: An der Westseite des Friedhofs war ein Mausoleum entstanden, in dem seither verstorbene Familienmitglieder – teilweise in Marmorsärgen – beigesetzt wurden, zuletzt der Urenkel Julius von Heimendahl (Haus Bockdorf, Kempen). Er hatte sich in Lobberich mit „Haus Erlenbruch“ eine repräsentative Villa gebaut, das Grundstück erhielt er von seinem Bruder Karl, der durch die Heirat mit Anna Katharina Kessels, der Tochter des Bürgermeisters, Besitzer von Burg Ingenhoven geworden war. Das N in den Wetterfähnchen erinnert noch heute an die Niediecks, die die Burg bis Mitte der 1930er Jahre besaßen. Karl brachte es gar zum Geheimen Kommerzienrat und überlebte seinen Bruder um 16 Jahre. Die Familiengruft auf dem Lobbericher Friedhof nahe der Kriegergedenkstätte (1870/71) fiel wesentllich bescheidener aus und ist heute nur noch teilwese erhalten.

Die Textilfamilien waren später auch untereinander verbandelt. So ehelichte Karls Tochter Johanna Anton van der Upwich, sein Sohn Heinrich Karl Melanie Reifenstuhl und deren Sohn wieder Edith Wöllner, eine Tochter des Reifenstuhl-Schwiegersohns Wilhelm Wöllner. Auch die van der Upwichs bauten großzügig. Während die „Stadtvillen“ Hochstraße 70 (später Notariat, heute Wohnungen) und Steegerstraße 14 heute noch erhalten sind, wurde die 1902 im Firmenpark von Carl van der Upwich errichtete Villa schon 1955 wegen Unwirtschaftlichkeit wieder abgebrochen.

Die Familie van der Upwich, die aus Nunspeet (Niederlande) stammt, unterhält noch eine große Grabanlage auf dem Lobbericher Friedhof nahe den Priestergruften. Um die Erinnerung an die Familie wach zu halten, hat der später am unteren Niederhein lebende Carl Hermann Gisbert van der Upwich eine Stiftung errichtet, die heute noch Ausschüttungen für soziale Zwecke in Lobberich erbringt. Schließlich hatte sich Großvater Hermann, auch Geheimer Kommerzienrat, schon zu Lebzeiten sozial engagiert und als Beigeordneter „gestaltend Einfluss auf die Entwicklung der Gemeinde“ genommen, schrieb der Historiker Theo Optendrenk.

Während die Namen Niedieck und van der Upwich in den 1930er Jahren aus den Firmengeschichten und nach dem Zweiten Weltkrieg auch aus Lobberichs Einwohnerlisten verschwanden, bleiben Wohltaten (wie die Finanzspritzen zum Bau der Krankenhäuser in Lobberich und Breyell) in Erinnerung, aber auch Skurrilitäten. Julius Niedieck machte seine Hochzeitsreise mit Bertha Mengelbier in einer Kutsche seines Schwiegervaters, die der russische Zar bestellt hatte. Sein Sohn Paul (1873 bis 1948) hatte keine Lust auf Kaufmännisches, er wurde Schriftsteller, Jäger und Weltreisender und frühstückte auch mal mit dem amerikanischen Präsidenten Theodore Roosevelt. Und ein Van-der-Upwich brauste in den Nachkriegsjahren auf einem schweren Motorrad mit Beiwagen durch Lobberich, erinnern sich 80-Jährige.

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