Nettetal Spielsucht: Die Qual der Quoten

Nettetal · Der Markt für Sportwetten im Internet boomt, doch immer mehr Menschen gehen daran zu Grunde. Ein Betroffener erzählt, wie er am PC ein Vermögen verzockte, nun heillos überschuldet ist und kein Fußballspiel mehr sehen kann.

 Spielsüchtige kommen oft gar nicht mehr vom Computer weg. Stundenlang suchen sie nach Möglichkeiten, um Geld zu spielen.

Spielsüchtige kommen oft gar nicht mehr vom Computer weg. Stundenlang suchen sie nach Möglichkeiten, um Geld zu spielen.

Foto: Busch

Die Meldung im Radio ist harmlos, aber für G.* hat sie ungeahnte Folgen. Borussia Dortmund gegen Schachtjor Donezk, das ist die Auslosung in der Fußball-Champions-League. Im Kopf von G. beginnt es zu wüten: Zahlenkolonnen laufen vor seinem inneren Auge ab, Quoten, Mausklicks, Geld — verloren.

Er macht die Augen wieder auf. "Es geht nicht mehr", sagt der Mann Anfang 50 aus dem Kreis Viersen, der gerade dabei ist, den Scherbenhaufen seiner Existenz zusammenzukehren. Er sitzt auf einem Stuhl in der Insolvenzberatungsstelle der Arbeiterwohlfahrt (Awo) des Kreises. Seine letzte Rettung vor dem endgültigen Ruin. Weit mehr als 100 000 Euro hat er verzockt.

G. ist spielsüchtig. Er will anonym bleiben, aber andere Spieler warnen und spricht deshalb mit unserer Zeitung. In seinem Kopf spukt eine Sucht nach Sportwetten, eine Hast, die ihn immer dann ergreift, wenn er an Fußball denkt. Quoten sind seine Qual. Und sie haben ihm beinahe alles genommen. "Aber ich habe es mir selbst eingebrockt", sagt G. über seine Sucht, an denen die Wettanbieter verdienen, die der Glücksspielstaatsvertrag demnächst mit legalen Lizenzen für Deutschland ausstatten will.

G.s Spielwahn begann vor zehn Jahren. Er war leidenschaftlicher Fußballfan und entdeckte eine Werbung für Sportwetten im Internet — er meldete sich an beim Anbieter "betandwin". G. spielte ganz wenige Tipps mit ein paar Euro Einsatz, nichts Riskantes, Fußball wurde nur ein bisschen spannender. Über die Jahre aber kam er nicht mehr davon los, denn irgendwann kamen die Livespiele. "Das hat mich einfach in seinen Bann gezogen", sagt G.. Er wettete am PC nun auch darauf, wer den nächsten Einwurf haben wird. Auf den nächsten Eckball. Platzverweise. Abseits. Ob nach der 75. Minute noch ein Tor fällt. "In England fallen immer spät Tore." Manchmal gewann er, holte Einsätze wieder rein. Aber er beließ es nicht dabei. "Ich musste immer neu einzahlen und immer neue Wetten abschließen", sagt er.

Ein Wettanbieter reichte ihm nicht mehr. Nach und nach eröffnete er Spielkonten bei immer mehr Anbietern, die mit saftigen Boni lockten. Auch die Bundesliga war nicht mehr genug. Rund um die Uhr zockte er nun, setzte auf irgendwelche Drittliga-Spiele in Indonesien, Zweitliga-Spiele in Hong-Kong. "Ich habe 24 Stunden davor gehangen, konnte nicht aufhören", sagt G.. "Jetzt kenne ich jeden Verein auf der Welt." Nebenbei arbeitete er, und belog seine Frau und die beiden Kinder, als die fragten: "Warum können wir dieses Jahr nicht mehr in Urlaub fahren?"

Und am Arbeitsplatz wurde er unruhig, wenn er Ergebnisse nicht live verfolgen konnte. Erst war die Lebensversicherung verzockt, dann die Ersparnisse, schließlich lieh er sich Geld. Er begann, Schulden zu machen. Er nahm Kredite auf, um überfällige Kredite abzulösen — und zockte immer weiter. Wenn frischer Lohn da war, ging er an die Tankstelle und kaufte sich "Paysafe"-Karten —eine Art Prepaid-Karten für Bezahlungen im Internet. Es ging nicht mehr ums Gewinnen. Sondern ums Zocken. Spielsucht.

Sein Leben wurde ein wackeliges Konstrukt aus Lügen, ein Kartenhaus. Wenn eine Stütze wegbrach, zupfte er woanders eine Karte heraus und stopfte das Loch für ein paar Tage. Dann fing alles wieder an zu wackeln. "Ich musste immer vertuschen, andere belügen, mich selbst belügen", sagt G.. "Man steigert sich in eine eigene Welt hinein."

Seine Frau ließ sich scheiden, eine anschließende Beziehung scheiterte, die mittlerweile erwachsenen Kinder zogen aus, das Konto war wegen Ratenzahlungen bis zum Anschlag überzogen — bis er vor wenigen Monaten die Reißleine zog und zur Awo kam. Zwischen 60.000 und 70.000 Euro haben sich an Schulden aufgetürmt, bei mehreren Banken steht er in der Kreide, der Großteil des Gehalts geht für die Ratenzahlungen drauf.

Nur das Nötigste bleibt ihm zum Leben. Seine Wohnung ist karg möbliert, zu essen gibt es Magerkost. Sein Berater bei der Awo versucht, die Finanzen in halbwegs geordnete Bahnen zu lenken. "Wir moralisieren und verurteilen Betroffene nicht. Wir verhandeln mit Gläubigern, sichern den Arbeitsplatz und versuchen, eine höhere Lebensqualität zu ermöglichen", sagt der Berater.

Er betreibt Krisenmanagement. Etwa fünf Prozent der Leute in seiner Beratung sind wegen Spielsucht überschuldet. "Aber viele weitere Betroffene kommen nicht, weil sich die sie sich die Wahrheit mit Selbstbetrügereien schönreden."

So, wie G. es tat. Nun ist er eine Ausnahme. "Ich bin jetzt spielfrei, aber das ist wie mit Alkohol und Drogen", sagt G.. Jahre wird es dauern, bis er wirtschaftlich gesund ist. Suchtkrank wird er immer bleiben. "Ich bin nervös, ungeduldig, rappelig und habe immer Stress." Ein Fußballspiel kann er sich nicht mehr anschauen. Selbst eine harmlose Meldung im Radio kann schon gefährlich sein. Die Quoten bleiben.

* Vollständiger Name und Alter der Redaktion bekannt.

(RP/ila)
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