Nettetal/Kiew In Ivans Heimatstadt herrscht Anarchie

Nettetal/Kiew · Der Ukrainer Ivan Masiuk wünscht sich mehr Besonnenheit im Konflikt um seine Heimat. Der 22-Jährige, der in der Jugendherberge Hinsbeck arbeitet, stammt aus dem russisch-orientierten Osten des Landes.

 Ivan Masiuk fühlt sich sehr wohl in Deutschland. Er schätzt die Freundlichkeit und Hilfsbereitschaft der Menschen und "die Ruhe, in der man hier lebt".

Ivan Masiuk fühlt sich sehr wohl in Deutschland. Er schätzt die Freundlichkeit und Hilfsbereitschaft der Menschen und "die Ruhe, in der man hier lebt".

Foto: Busch

Mit Sorge verfolgt Ivan Masiuk seit Monaten die Geschehnisse in seiner ukrainischen Heimat. Die Zuspitzung der vergangenen Tage habe er fast erwartet, sagt der junge Ukrainer. Das Konfliktpotenzial führt er zurück auf die lange Geschichte Russlands und der Ukraine. Der 22-Jährige absolviert in der Jugendherberge in Hinsbeck seit dem vergangenen Sommer ein Freiwilliges Soziales Jahr. Er stammt aus Saporishshya, einer Stadt im Osten des Landes am Asowschen Meer, in einer Region, in der Ukrainer und Russen nebeneinander leben.

"Ich glaube, der Umsturz hat Kräfte freigesetzt, die unserem Land nicht guttun."

Ivan Masiuk ist Ukrainer, er ist aber überwiegend mit der russischen Sprache aufgewachsen. "Ukrainisch ist eine Zweitsprache für mich, und manche Dialekte verstehe ich überhaupt nicht", erzählt der junge Mann. Der Fluss Dnjepr teile die Ukraine in zwei Hälften. Die Ostukraine sei stark russisch geprägt, die westliche Hälfte orientiere sich vor allem nach Ungarn und nach Polen, nicht unbedingt aber hin zu EU.

Er hat mit gemischten Gefühlen die Protestaktionen der vergangenen Monate in Kiew und anderen Großstädte der Westukraine verfolgt. "Ich möchte in Ruhe leben können. Ich glaube, der Umsturz hat Kräfte freigesetzt, die unserem Land nicht guttun." Die Regierung unter Viktor Janukowitsch beurteilt er zurückhaltend. Die vergangenen vier Jahre seien aber tatsächlich zunehmend von Willkür, Korruption und Bereicherung bestimmter Kreise im Umfeld des Präsidenten geprägt worden. Auch viele seiner Anhänger seien enttäuscht von Janukowitsch.

"Auf der Krim leben weit weniger Russen als geheimhin dargestellt"

Ivan Masiuk ist überzeugt, dass sowohl der Umsturz als auch die jüngsten Reaktionen in Russland jeweils von langer Hand geplant waren. "Russland hat die Krim immer als ihr Territorium betrachtet. Aber dort leben weit weniger Russen als gemeinhin dargestellt wird", meint er. Neben Ukrainern seien dort in erster Linie Krimtataren zu Hause.

Mit seinen Eltern hat er als Kind häufig Urlaub auf der Krim verbracht. "Russland will die Krim aus militärstrategischen Gründen kontrollieren, sie ist aber auch wirtschaftlich interessant wegen des Tourismus. Die Landschaft der Halbinsel ist wunderschön." Konflikte zwischen Volksgruppen in seiner Heimat solle man mit dem Blick von außen nicht überbewerten. "Es gibt sie, aber sie sind bisher nicht dramatisch gewesen. Jetzt werden sie dramatisiert."

Zurück in die Ukraine zieht Ivan zurzeit nichts

In seiner Heimatstadt herrsche geradezu Anarchie, seitdem vor einigen Monaten der Bürgermeister wegen Korruption auf dem Kiewer Flughafen festgenommen wurde. Polizeikräfte, die ebenfalls generell mit größter Vorsicht zu genießen seien, wurden nach Kiew abgezogen. In das Vakuum stießen kriminelle Banden und Schlägertrupps. Sie terrorisieren die Bevölkerung, stehlen, rauben, drangsalieren Menschen — "nach Einbruch der Dunkelheit wagt sich niemand mehr ins Freie."

Was er sich wünscht? "Politisch stabile Verhältnisse, wirksamen Kampf gegen Korruption, Zuverlässigkeit staatlicher Organe und eine Balance der Interessen zwischen Russland und Europa", sagt er. Im Juli endet das Soziale Jahr, dann will er nach dem ukrainischen Bachelor- und Master-Abschluss in Metallurgie in Deutschland Maschinenbau studieren. Seine Deutschkenntnisse hat er in Hinsbeck erheblich verbessert, zurzeit bewirbt er sich um einen Studienplatz. Gegenwärtig zieht ihn nichts zurück in sein Heimatland. Dort sieht er keine gesicherte Zukunft für sich.

(RP)
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