Nettetal Am Niederrhein neue Heimat gefunden

Nettetal · Wie kamen West- und Ostpreußen, Schlesier und Pommern nach ihrer Flucht oder Vertreibung nach dem Zweiten Weltkrieg am Niederrhein zurecht? Hier Fuß zu fassen, war nicht ganz einfach, doch vielen ist es gelungen.

 Seit 1946 lebt Hermann Süssenbecker in Lobberich. Im Rheinland fühlt sich der 82-Jährige wohl, doch "meine Geburtsstadt Breslau und mein Schlesierland sind für mich unvergesslich", sagt er.

Seit 1946 lebt Hermann Süssenbecker in Lobberich. Im Rheinland fühlt sich der 82-Jährige wohl, doch "meine Geburtsstadt Breslau und mein Schlesierland sind für mich unvergesslich", sagt er.

Foto: Franz-Heinrich Busch

Zur Zeit zieht er wieder einmal um, diesmal in eine Wohnung mit Aufzug, weil das Treppensteigen beschwerlicher wird. Wie oft er in seinem nun 82 Jahre währenden Leben umgezogen ist oder auch umziehen musste, weiß Hermann Süssenbecker nicht genau zu sagen. Denn da gibt es eine Zeit, in der er innerhalb von knapp zwei Jahren in vielen Orten gelebt hat. Es war die Zeit der Flucht und Vertreibung von einem Bauernhof in der Gemeinde Burgweide im Landkreis Breslau (Niederschlesien). Als die russische Armee vom Osten her immer näher rückte, verließ die Familie Süssenbecker ihre Heimat zusammen mit einem französischen Zwangsarbeiter am 23. Januar 1945 und kam nach zahlreichen Stationen in Waldenburg nahe der Grenze zur Tschechoslowakei an. Dort machte sich - mit Vater Süssenbeckers Erlaubnis und mit Proviant versehen - Eugène aus dem Staub in Richtung Bretagne.

Die Familie Süssenbecker wurde über einen Umweg über die Tschechei nach Burgweide zurückgeschickt und dort dann im Juni 1946 vertrieben. "In einem Viehtransporter kamen wir in Wipperfürth an", erinnert sich Hermann Süssenbecker. Weil ein Lager in Troisdorf überfüllt war, "wurden wir Anfang Juli 1946 nach Lobberich geschickt". Hier war die erste Unterkunft im ehemaligen Kindergarten am "Ferkesmarkt" (heute Von-Bocholtz-Straße). Die Vertriebenen wurden keineswegs mit offenen Armen empfangen, denn Wohnraum war knapp und zu essen gab es nur wenig. Kann man nach diesem frostigen Empfang hier heimisch werden? "Für uns Kinder war das leichter als für die Eltern, die noch an ihrer alten Heimat hingen", sagt Süssenbecker nach einigem Überlegen. Über die Schule entstanden die ersten Kontakte zu den Einheimischen, weitere kamen während der Lehre als Betriebsschlosser bei Hurtz hinzu. Die evangelische Kirchengemeinde wurde zum Bindeglied. "Nach den Gottesdiensten haben wir uns auf der Straße mit Ostpreußen, Pommern und anderen Schlesiern getroffen, denn wir kannten uns ja alle nicht", erinnert er sich. Für die Kirchengemeinde übernahm er später zehn Jahre lang Küsterdienste und das Amt des Jugendleiters, denn "ich war darauf bedacht, heimisch zu werden".

Dazu trug sicherlich auch bei, dass er mit Marianne Hochbruck ein Lobbericher Mädchen kennenlernte und 1957 heiratete. Die Familie - nach und nach kamen vier Kinder - wohnte des väterlichen Berufs wegen kurze Zeit in Düsseldorf, doch dann nur noch in Hinsbeck und Lobberich. Der Vater wurde nach einigen Weiterbildungen zum Pendler und war dann zunächst bei der Evangelischen Pflegeanstalt Hephata in Mönchengladbach in der Werkstatt mit behinderten Menschen tätig, ehe er bis zur Pensionierung im Alexianer-Krankenhaus Krefeld die Arbeits- und Beschäftigungs-Therapie aufbaute und leitete. "Heimat ist da, wo Herz und Seele sich wohlfühlen", beschreibt Hermann Süssenbecker seine gegenwärtige Gefühlslage, denn er habe hier einen großen Freundes- und Bekanntenkreis. Doch, fügt er gleich hinzu, "meine Geburtsstadt Breslau und mein Schlesierland sind für mich unvergesslich". Deshalb fährt er in Abständen "immer mal gerne nach Hause". Er war fast 13 Jahre, als er vertrieben wurde. So haben sich noch viele Erinnerungen an Kindheit und Jugend auf dem elterlichen Bauernhof erhalten, auch wenn viele in den Jahren 1945 und 1946 sehr schrecklich sind.

Doch Hermann Süssenbecker lebt im Hier und Heute und weiß, dass es kein Zurück mehr gibt. "Ich fühle mich hier im Rheinland am Niederrhein wohl und bin zufrieden", zieht er Bilanz und ergänzt: "Und ich glaube, ich darf mich als Lobbericher fühlen." Dann bekräftigt er: "Ich bin ein Lobbericher."

(mme)
Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort