Moers Seelow: Partnerschaft begann mit einer Farce

Moers · Die Gründungsgeschichte der 25-jährigen Partnerschaft mit der brandenburgischen Kleinstadt war voller Turbulenzen. Ein Signal drohte zur politischen Farce zu werden.

 Dieses Foto von der Kirche wurde ebenfalls 1990 auf der Reise in die brandenburgische Partnerstadt aufgenommen.

Dieses Foto von der Kirche wurde ebenfalls 1990 auf der Reise in die brandenburgische Partnerstadt aufgenommen.

Foto: Jürgen Stock

Am 28. Februar 1990 unterzeichneten Vertreter des Rates der Stadt Moers und der brandenburgischen Kreisstadt Seelow einen Vertrag über eine Städtepartnerschaft. Diese sechste Vereinbarung zwischen Moers und einer Partnerkommune war die wohl turbulenteste und umstrittenste in der Geschichte der Stadt. "Bei der Vertragsunterzeichnung herrschte im Ratssaal Eiseskälte", erinnert sich Alt-Bürgermeister Wilhelm Brunswick. "Es war fast wie auf einem Schlachthof." Die Moerser Grünen und sowohl die Seelower als auch die Moerser CDU hatten ihre Unterschrift aus Protest verweigert. Aus dem hoffnungsvollen Signal, das den demokratischen Kräften in Brandenburg Aufwind hätte geben sollen, war eine politische Farce geworden.

Dass es zu solchen Verstrickungen kommen könnte, hatten die beiden Kirchenmänner nicht geahnt, die im November 1989 in Moers zusammensaßen. In der DDR gärte es, in Prag war die Botschaft besetzt worden, aber die Mauer stand noch. In dieser Situation besuchte der Superintendent des Kirchenkreises Seelow, Reinhold Schmidt, seinen Moerser Amtskollegen Kurt Bergerhoff. Zwischen evangelischen Gemeinden beider Kirchenkreise bestanden seit 1949 enge Beziehungen, die auch in den bedrückendsten Zeiten des kalten Krieges aufrechterhalten wurden, ohne dass dies öffentlich wirklich bekannt gewesen wäre. So war auf Moerser Seite der spätere Bundesjustizminister und Präses der EKD, Jürgen Schmude, selbst da noch in kirchlicher Mission im Oderbruch unterwegs, als er bereits den Rang eines Staatssekretärs hatte. Nun aber, im November 1989, schien Wilhelm Brunswick die Zeit reif, nach einem ersten vergeblichen Anlauf einen weiteren politischen Versuch zu starten, um Möglichkeiten eines interkommunalen Austausches auszuloten. "Schmidt nahm meinen Brief an den Rat des Kreises mit nach Seelow, und wenige Tage später rief der Ratsvorsitzende des Kreises Seelow bei mir an. Die Mauer war inzwischen gefallen." Nach einigem Hin und Herr, in dessen Verlauf auch ein fast schon in Vergessenheit geratener Fernschreiber im Moerser Rathaus wieder zu Ehren kam, stattete Brunswick am 10. Januar 1990, begleitet von den beiden Fraktionsvorsitzenden Ulrich Ruthenkolk (SPD) und Hemann Alkämper (CDU), Seelow einen Erkundungsbesuch ab. Drei Wochen später folgte eine Delegation des Moerser Rates, der sich ein junger Redakteur der Rheinischen Post anschloss.

 Um die Kirche zogen Demonstrationszüge. Die Moerser Gäste erlebten bizarre Szenen in der Zeit des Umbruchs.

Um die Kirche zogen Demonstrationszüge. Die Moerser Gäste erlebten bizarre Szenen in der Zeit des Umbruchs.

Foto: Jürgen Stock

Die Gäste trafen auf ein Land, in der die Vergangenheit noch nicht ganz aufgehört hatte und die Zukunft ungewiss war. In der Luft lag der beißende Geruch unzähliger Braunkohleöfen, auf dem Land floss LPG-Gülle offen in den Dorfteich, und in den Rathäusern hatten noch immer die alten SED-Schranzen und ihre Blockpartei-Genossen das Sagen. Mit ihnen hatten die Moerser vorwiegend zu tun. Christian Rekow (SED), Ratsvorsitzender des Kreises, hatte für seine Gäste ein Tourismusprogramm nebst Fahrt über die Oder zusammengestellt, so dass die Moerser den sich Bahn brechenden Stimmungsumschwung in der knapp über 5000 Seelen zählenden Kreisstadt nur am Rande mitbekamen.

Tatsächlich zogen im Januar auch in Seelow Demonstrationszüge um die Kirche, auf denen die Ablösung von Rekow und die des örtlichen Zeitungsredakteurs Wolfgang Übelhack gefordert wurde. Auch ein Runder Tisch hatte sich schon gebildet, an dem Vertreter von Oppositionsgruppen die Machtablösung vorbereiteten, während Erich Honecker in Berlin in Untersuchungshaft saß. Bizarre Szenen gab es da in Seelow zu erleben; Wut auf die Noch-Machthaber, aber auch Unbeholfenheit bei der Opposition im Umgang mit den ungewohnten demokratischen Gepflogenheiten. "Unsere Kinder durften wegen ihrer christlichen Einstellung nicht zur Oberschule", erinnert sich Pfarrersfrau Marianne Quos. "Wir wollten die alten SED-Kader so schnell wie möglich weg haben."

 Die Moerser Gruppe erlebte die Wut auf die Noch-Machthaber.

Die Moerser Gruppe erlebte die Wut auf die Noch-Machthaber.

Foto: OCK

Nicht nur in Seelower Kirchenkreisen, die seit Jahrzehnten Kontakte zum Niederrhein unterhielten, registrierte man etwas irritiert, dass die Moerser Gäste mit SED-Rekow anstießen, ohne sich an den Demonstrationen ringsum zu stören. Die Folge war ein Protest des Runden Tisches gegen diese vermeintliche Kumpanei. Davon erfuhren die Teilnehmer der Delegation aber erst nach ihrer Rückkehr durch einen Artikel in unserer Zeitung. Bei der einen Irritation blieb es nicht. Den ganzen Februar hindurch wurde sowohl im Oderbruch als auch am Niederrhein heftig über Form und Zeitpunkt des Partnerschaftsvertrags gestritten. Denn in der DDR standen im März Volkskammerwahlen und im Mai Kommunalwahlen an. Gerade in Seelow, einer ehemaligen Kader-Hochburg, gab es Befürchtungen, dass die SED-Nachfolger die doch aus kirchlichen Kontakten entstandene Partnerschaft zur eigenen Profilierung im Wahlkampf nutzen könnten.

Wilhelm Brunswick hatte inzwischen den Ernst der Lage erkannt und sein ganzes diplomatisches Geschick spielen lassen, um einen Eklat zu vermeiden. Der Partnerschaftsvertrag sollte auf seine Vermittlung hin nicht nur von den Bürgermeistern, sondern auch von den Fraktionsvorsitzenden und Vertretern der Oppositionsgruppen unterschrieben werden. Doch als dann Moerser und Seelower am 28. Februar den Vertrag unterzeichneten, dokumentierten sie damit nur den Riss, der durch beide Kommunen ging. Dennoch wurde die Partnerschaft eine Erfolgsgeschichte. Zum Glück ließ sich niemand von den politischen Querelen davon abhalten, das zu tun, was in dieser Situation wichtig war: praktisch zu helfen. Jahrelang waren in der Folge Behördenmitarbeiter aus dem Kreis Wesel im Oderbruch unterwegs, um dort beim Aufbau von Verwaltungsstrukturen Unterstützung zu leisten. "Man muss sich einmal vor Augen halten, dass die erste demokratisch gewählte Bürgermeisterin von Seelow Zahnarzthelferin war", erinnert sich Brunswick. "Wenn wir damals nicht sofort zur Stelle gewesen wären, wären die untergegangen."

Nachtrag: Gerne hätten wir an dieser Stelle den Seelower Bürgermeister Jörg Schröder zu Wort kommen lassen. Doch war es uns trotz intensiver Bemühungen nicht möglich, ihn telefonisch zu erreichen. Ein Fernschreiber im Moerser Rathaus existiert leider schon lange nicht mehr, und auch ein Superintendent war gerade nicht zur Hand.

(RP)
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