Nach tödlichem Autorennen in Moers Die Suche nach Gerechtigkeit

Moers-Meerbeck · Der Bundesgerichtshof hat das Mord-Urteil im Meerbecker Raser-Prozess aufgehoben. Was die Entscheidung des obersten deutschen Gerichts konkret bedeutet.

 Weiße Markierungen der Polizei auf der Bismarckstraße in Moers-Meerbeck zeigen den Unfallhergang nach dem Autorennen.

Weiße Markierungen der Polizei auf der Bismarckstraße in Moers-Meerbeck zeigen den Unfallhergang nach dem Autorennen.

Foto: dpa/Arnulf Stoffel

Selten hat ein Schicksal die Menschen in Moers so berührt wie das der 43 Jahre alten Mutter, die am Ostermontag 2019 auf der Bismarckstraße in Meerbeck mit ihrem Kleinwagen in ein illegales Autorennen geriet und später im Krankenhaus an ihren schweren Verletzungen starb. Dass der Bundesgerichtshof (BGH) die Verurteilung des Hauptangeklagten wegen Mordes zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe jetzt aufgehoben hat, ist – jedenfalls für juristische Laien – sehr wahrscheinlich nur schwer zu verstehen. Was bedeutet die Entscheidung des obersten deutschen Gerichts konkret? Warum gibt es überhaupt das Rechtsmittel der Revision? Und wie geht es jetzt weiter? Wir haben Fragen und Antworten zusammengetragen.

Die Vorgeschichte Es ist schon dunkel, als sich zwei damals 22 Jahre alte Männer aus Duisburg am Ostermontag 2019 um kurz vor 22 Uhr auf einem Supermarktparkplatz in Moers verabreden, ein Autorennen gegeneinander zu fahren. Einer der beiden – der spätere Hauptangeklagte – steuert einen 600 PS starken Mercedes AMG, obwohl er mehrfach die theoretische Führerscheinprüfung nicht bestand und deshalb keinen Führerschein hat. Sein Kontrahent sitzt in einen Range Rover mit 550 PS. Das Kräftemessen soll auf der Baerler Straße/Bismarckstraße stattfinden – mitten in einem Wohngebiet. So hat es das Schwurgericht am Landgericht Kleve in seinem Urteil vom 17. Februar 2020 festgestellt.

Das Rennen Als Startpunkt wird der überquerte Bahnübergang an der Glückauf-Schranke ausgemacht. Hinter den Gleisen treten die beiden Fahrer aufs Gas. Der Mercedes-Fahrer auf der linken (Gegen-)Fahrspur beschleunigt zeitweise mit mindestens 167 km/h. Das wird später vor Gericht ein technisches Gutachten belegen. Erlaubt sind auf der innerstädtischen Straße nur 50 km/h.

Der Unfall Als in diesem Moment circa 100 Meter voraus die 43-Jährige mit ihrem Citroen Saxo aus einer Seitenstraße auf die Bismarckstraße einbiegt, kann der 22-Jährige seinen circa 2000 Kilo schweren Mercedes trotz Vollbremsung nicht mehr anhalten. Es kommt zum Zusammenstoß. Der AMG wird mit solcher Wucht auf das Heck des Kleinwagens geschleudert, dass dieser massiv zusammengedrückt und gegen zwei weitere Fahrzeuge geschleudert wird. Das Reserverad aus dem Kofferraum des Unfallopfers fliegt rund 100 Meter weit und trifft eine Passantin nur deswegen nicht, weil sie sich gerade nach ihrem Hund bückt. Die 43-Jährige wird aus ihrem Fahrzeug geschleudert und stirbt kurze Zeit später an ihren schweren Kopfverletzungen. Der weitgehend unverletzte Mercedes-Fahrer flieht zu Fuß vom Tatort, ohne sich um die sterbende Frau zu kümmern. Der zweite Fahrer, der mit Führerschein und etwas geringerer Geschwindigkeit ausschließlich die rechte Fahrspur befahren hatte, kann noch rechtzeitig abbremsen und kümmert sich um das Opfer, bevor auch er vom Tatort flieht.

Die Anklage Die rechtliche Bewertung der Staatsanwaltschaft Kleve orientierte sich damals auch am sogenannten Ku’damm-Urteil und der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs. Der Fall der beiden Berliner Ku’damm-Raser ist berühmt. Die beiden Männer fuhren in der Nacht zum 1. Februar 2016 mit hoher Geschwindigkeit über den Berliner Kurfürstendamm. Dabei ignorierten sie mehrere rote Ampeln. An einer Kreuzung kam es dann zu einer Kollision mit einem unbeteiligten Fahrzeug. Der 69 Jahre alte Fahrer hatte keine Chance auszuweichen und starb noch in seinem Auto an den Folgen des Unfalls. In erster Instanz wurden die beiden Fahrer vom Landgericht Berlin wegen gemeinschaftlichen Mordes zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe verurteilt. Der BGH kassierte das Urteil wegen Mängeln in der Urteilsbegründung zunächst wieder ein, weshalb sich das Landgericht Berlin noch einmal mit dem Fall beschäftigen musste. Die beiden Raser wurden erneut wegen Mordes verurteilt. Diesmal hatte eine der beiden Entscheidungen Bestand. Im zweiten vom BGH erneut zurück verwiesenen Fall entschied das Landgericht Anfang März dieses Jahres auf eine Strafe von 13 Jahren Haft und fünfjähriger Führerscheinsperre – nicht wegen Mordes, sondern wegen versuchten Mordes und vorsätzlicher Straßenverkehrsgefährdung.

Das Urteil des Landgerichts Auch das Landgericht Kleve hat im Meerbecker Fall den unmittelbar am Unfall beteiligten Angeklagten wegen Mordes in Tateinheit mit verbotenem Kraftfahrzeugrennen mit Todesfolge im vergangenen Jahr zu lebenslanger Freiheitsstrafe und den zweiten Rennteilnehmer wegen verbotenen Kraftfahrzeugrennens mit Todesfolge zu einer Freiheitsstrafe von drei Jahren und neun Monaten verurteilt. Nach Auffassung des Gerichts hielt es der Mercedes-Fahrer für möglich und nahm billigend in Kauf, dass bei einem Unfall eine oder mehrere Personen tödlich verletzt werden, weil es ihm wichtiger war, vor seinen Freunden mit dem 600 PS starken Mercedes AMG anzugeben. Beide Angeklagten legten Revision gegen das Urteil des Landgerichts ein.

Die Revision Die Revision ist ein Rechtsmittel gegen eine gerichtliche Entscheidung. Dabei werden – anders als bei der Berufung – grundsätzlich nicht noch einmal die tatsächlichen Umstände des Falles untersucht. Vielmehr wird das Urteil der vorherigen Instanz auf Rechtsfehler überprüft. In Strafsachen entscheidet in Deutschland der Bundesgerichtshof über Revisionen gegen erstinstanzliche Urteile der Landgerichte und der Oberlandesgerichte.

Die Entscheidung des BGH Aus Sicht des unter anderem für Verkehrsstrafsachen zuständige 4. Strafsenats des Bundesgerichtshofs hat die Ver­ur­tei­lung des Hauptangeklagten wegen Mor­des kei­nen Be­stand. Weil der 22-Jährige eine Vor­fahrts­stra­ße be­fuhr, zwei­feln die Bundesrichter am be­ding­ten Tö­tungs­vor­satz. „Der Senat hat die Verurteilung des unmittelbar am Unfall beteiligten Angeklagten wegen Mordes aufgehoben, weil die Beweiswürdigung des Landgerichts den Anforderungen zur Begründung eines bedingten Tötungsvorsatzes bei hochriskanten Verhaltensweisen im öffentlichen Straßenverkehr nicht entsprach“, sagt der Moerser Fachanwalt für Straf- und Verkehrsrecht Bertil Jakobson, Leiter des Fachausschusses „Unfallregulierung“ des VdVKA - Verband deutscher Verkehrsrechtsanwälte mit Sitz in Kiel. Insbesondere habe die Kammer nicht hinreichend bedacht, dass der vorfahrtsberechtigte Angeklagte möglicherweise auf die Einhaltung der Haltepflicht des Querverkehrs und damit ernsthaft und nicht nur vage auf das Ausbleiben eines Unfalls vertraute. Dieses für die subjektive Einschätzung der Gefährlichkeit der Tathandlung maßgebliche Vorstellungsbild des Angeklagten hätte vom Landgericht berücksichtigt werden müssen, sagt der BGH. Das gelte umso mehr, als dass der Angeklagte in seiner Einlassung ausdrücklich vorgebracht hat, unter anderem wegen der weit einsehbaren Bismarckstraße als Vorfahrtsstraße darauf vertraut zu haben, dass es zu keinem Unfall kommt. Die Revision des am Rennen beteiligten Mitangeklagten hat der BGH verworfen.