Rollstuhlfahrer aus Moers berichtet Ein Mann, ein Rollstuhl und tausend Blicke

Moers · Der Umgang mit Behinderten in Neukirchen-Vlyun störte Lenny Lenders so sehr, dass er seine Heimat verließ. Jetzt engagiert er sich in Moers und schildert seinen Alltag.

 Er will sich nicht Zuhause verstecken und sucht den Kontakt zu den Menschen: Rollstuhlfahrer Lenny Lenders (51).

Er will sich nicht Zuhause verstecken und sucht den Kontakt zu den Menschen: Rollstuhlfahrer Lenny Lenders (51).

Foto: Klaus Dieker.

Lenny Lenders kann kaum noch atmen, aber für klare Worte reicht die Luft noch. Den Mut hat er. Trotz allem, was passiert ist, trotz all der Blicke und der tuschelnden Passanten, die der 200 Kilo schwere Mann im Rollstuhl jeden Tag ertragen muss. Diesmal trifft es Neukirchen-Vluyn und die Art, wie man dort mit Menschen umgeht. Menschen wie Lenny.

"Ein Neandertal der Barrierfreiheit" nennt der 51-Jährige, der seit neun Jahren im Rollstuhl sitzt, die Stadt. "Es gibt in Neukirchen-Vluyn nicht mal eine öffentliche Toilette für uns Rollstuhlfahrer." Zudem seien viele Wege nicht behindertengerecht ausgebaut. Abends rauskommen, einen Kaffee trinken, das kann Lenny vergessen. "Wenn du aufs Klo musst, fährst du nach Hause - falls du es bis dahin schaffst." Zuerst wollte Lenny noch etwas tun. Er sammelte Tipps im Netz, was Rollstuhlfahrer beachten müssen, damit alle, die Angst haben, irgendwo nicht mehr weg zu kommen, doch noch am Leben teilnehmen.

Als er der Stadt vorschlug, seine Facebook-Seite auf ihrem Profil zu verlinken, sagte man dort, sowas gehöre nicht auf die Stadt-Seite. "Dann hat man irgendwann auch keine Lust mehr, dort zu leben", sagt Lenny, der vor zwei Jahren beschlossen hat, die Heimat zu verlassen. Jetzt hat er eine Wohnung in Moers gefunden. Im Herbst wird Lenny umziehen. Dann soll alles besser werden. Wenigstens ein bisschen.

Lenny Lenders war früher Moderator

Fünf Uhr am späten Nachmittag, die ersten Moerser machen Feierabend. Lenny, der eigentlich Erich Lang heißt, sitzt auf einer Terrasse am Altmarkt und rührt seinen Kaffee. Den Namen haben ihm Anfang der 2000er die Kollegen beim Fernsehsender Tele5 verpasst. Damals konnte Lenny noch laufen und moderierte Straßen- und Volksfeste überall in NRW. "Das war 'ne tolle Zeit". Lenny mag die Niederrheiner, auch wenn er jetzt in eine andere Ecke ziehen muss. "Die Innenstadt von Moers ist einfach besser eingestellt auf uns Rollstuhlfahrer."

Zwei Hunde turnen um den Rollstuhl. Lenny lacht und zündet sich eine Zigarette an. Die Ärzte sagen, das Rauchen bringt ihn um, aber das ist ihm egal. Lieber stirbt er zehn Jahre früher und genießt sein Leben. Lenny leidet an einer chronisch obstruktiven Lungenerkrankung, kurz COPD. Eine tödliche Krankheit, die die Bronchien verengt und das Atmen immer schwerer macht. 90 Prozent der Betroffenen sind Raucher. Heilung gibt es nicht, die meisten Patienten ersticken am Ende.

"Meine Eltern hatten eine Gaststätte, ich bin quasi im Qualm aufgewachsen", sagt Lenny. Auch der Vater bekam die Diagnose COPD. Sofort hat er alle Zigaretten weggeworfen, ein halbes Jahr später war er tot. 2005 ging Lenny das erste Mal zu den Ärzten, 2008 musste der Rollstuhl her. "Ich kann zehn Meter laufen, dann bekomm ich keine Luft mehr", sagt er. Aufgeben, das kam nicht in Frage. Mit dem Leben hatte Lenny noch eine Rechnung offen.

Angeschaut „wie ein Alien“

Als die Krankheit schlimmer wurde, war ihm klar: Er wird sich nicht für den Rest seines Lebens in der Wohnung einsperren. Lenny will raus. Raus auf die Straßen und in der frischen Luft leben. "Ich schäme mich nicht für mein Aussehen. Was die Leute von mir denken, ist mir egal", sagt Lenny. Nur: Was andere denken, weiß er oft gar nicht. Viele Menschen reden nur über ihn, nicht mit ihm.

"Es sind meist die Mitvierziger, die mich in der Stadt blöd angucken, als wäre ich ein Alien. Dann drehen sie sich um und fangen an, zu tuscheln." Aber Lenny will sich nicht unterkriegen lassen. Gafft jemand, spricht er die Leute an. "Los, macht doch ein Foto von meinem Körper, dann könnt ihr ihn euch immer anschauen", sagt er dann. Oft seien die Gaffer sprachlos, relativieren die Blicke. Es sei doch alles gar nicht so gemeint gewesen.

Lenny kennt den Unterschied zwischen einem interessierten und einem verachtenden Blick. Vor der Zeit als Moderator arbeitete er als Kaufhausdetektiv. "Leute zu beobachten und sie einzuschätzen, das war mein Job."

Kaum Behindertengerechte Wohnungen

Vor zwei Jahren hat Lenny beschlossen, Neukirchen-Vlyun zu verlassen. Eine schwierige Suche begann. Behindertengerechte Wohnungen sind rar. "Dass ich jetzt etwas gefunden habe, war reiner Zufall", sagt Lenny. Das Leben für Rollstuhlfahrer sei in Moers zwar besser als in Neukirchen-Vlyun, aber lange nicht perfekt.

Deshalb hat Lenny wieder eine Facebook-Gruppe gegründet. "Moers - Barrierefrei Report" informiert unter anderem über behindertengerechte Aufzüge und Toiletten in der Innenstadt. Doch es gibt auch Verbesserungsbedarf. Zum Beispiel bei den Bussen. "Die Fahrer der Niag sind sehr nett. Leider gibt es immer nur einen Platz für Rollstuhlfahrer." Einmal musste er deshalb auf dem Fahrradweg nach Hause fahren, anderthalb Stunden mit sechs km/h. "Es ist schade, dass uns niemand fragt. Wer sitzt denn im Rollstuhl, der politisch was entscheidet? Niemand."

Deshalb erhebt Lenny nun online seine Stimme. Einen ersten Erfolg gibt es bereits: Die Stadt Moers hat seine Seite verlinkt.

(atrie)
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