Moers Festival „Wir bieten ein analoges Online-Festival an“

Jazzfans verbringen Pfingsten 2020 mal ganz anders: Sie erleben das Moers Festival „vereinzelt-versammelt“ am heimischen PC. Für Festivalchef Tim Isfort ist der Live-Stream aus der Festivalhalle aber keine Einbahnstraße.

 Tim Isfort hat 2017 die Leitung des Moers Festivals übernommen.

Tim Isfort hat 2017 die Leitung des Moers Festivals übernommen.

Foto: Helmut Berns/Helmut Berns / Agentur Berns

Herr Isfort, das Corona-Virus hat viele Pläne durchkreuzt. Auch Sie haben turbulente Wochen hinter sich. Wie haben Sie als Festivalmacher diese Zeit erlebt?

TIM Isfort Die Gestalt des Moers Festivals hat sich in den letzten acht Wochen bestimmt zehn Mal verändert. Wir haben alle im März mitverfolgt, als die Lombardei dichtgemacht wurde und eine so große Kulturnation wie Italien zum Erliegen kam. Obwohl wir nicht wussten, wie sich die Lage in Deutschland entwickeln würde, ist damals die Entscheidung gefallen: Wir sagen das Moers Festival nicht ab. Anfangs hieß es ja, dass Veranstaltungen mit bis zu 1000 Zuschauern stattfinden dürften. Dann kam das Kontaktverbot und Mitte April das Verbot von Großveranstaltungen bis zum 31. August. Wir sind am Ball geblieben – auch weil wir bis dahin bei einer Absage mit juristischen Problemen rechnen mussten. Regressforderungen wären uns teuer zu stehen gekommen. Unser Geschäftsführer geht von einem mittleren fünfstelligen Betrag aus. Wir saßen in der Bredouille.

Also haben Sie am neuen Format ohne Publikum gebastelt…

Isfort Das Moers Festival nur zu streamen, wie es alle machen, also als Einbahnstraße in Richtung Publikum, fanden wir langweilig. Wir haben ein neues Erzählformat entwickelt, das wir Bund und Land als Fördermittelgeber sowie unseren Medienpartnern Arte Concert und WDR Fernsehen und WDR 3 Hörfunk vorgestellt haben. Alle waren begeistert und haben sich gefreut, dass mal etwas nicht abgesagt wird. Wir bieten dem Publikum Zuhause ein analoges Online-Festival mit dem größtmöglichen Maß an Ereignis und Erlebnis, unter dem Hashtag #Vereinzelt-Versammelt. Es spielen 216 Musiker aus 24 Nationen in der Halle, natürlich unter Beachtung aller Sicherheitsvorkehrungen. Die Auftritte werden live auf Arte Concert, auf unserer Homepage und unserer Facebook-Seite übertragen.

Viele Musiker, die Sie ursprünglich gebucht hatten, haben wegen der Pandemie abgesagt. Welche Absage hat Sie besonders geschmerzt?

Isfort Wir haben insgesamt 27 Absagen bekommen. Es war fast wie eine Szene aus einem Monty-Python-Film: Erst fällt ein Blatt vom Baum, dann zwei und plötzlich rauscht das Blattwerk komplett runter. In zehn bis 14 Tagen waren zwei Drittel des Programms weggebrochen, alle Amerikaner wie Archie Shepp und John Scofield, aber auch Projekte aus Äthiopien und Kuala Lumpur, auf die wir uns gefreut haben. Die Äthiopier hatten wir zum Jahreswechsel noch besucht. Es war ein tolles Projekt. Das Chorwerk Ruhr nach Moers zu holen, daran haben wir auch lange gearbeitet. Pfingsten sollte es soweit sein. Und dann wurde entschieden, dass Chöre Abstandsflächen einhalten müssen.

Wie haben Sie es geschafft, die Lücken im Programm zu füllen?

Isfort Wir haben das große Glück, dass viele Musiker aus aller Welt in Deutschland leben oder sich hier gerade aufhalten. Sie haben uns ihre Unterstützung zugesagt, auch wenn nicht alle in kompletter Besetzung auf dem Festival spielen können. Wir haben inzwischen mehr Programmpunkte als vorher. Ich glaube, wir sind die einzigen, die Live-Konzerte zum Beethoven-Jahr anbieten. Das Ruhrgebiets-Orchester „The Dorf“ hat sich mit der „Fünften“ befasst. Das Auner-Quartett aus Österreich haben wir beauftragt, sich mit den späten Stücken Beethovens auseinanderzusetzen. Mit der Hilfe von Bund und Land haben wir noch etwas Wichtiges erreicht: dass Musiker als systemrelevant gelten. Für Künstler aus den Benelux-Ländern und Frankreich zum Beispiel werden Passierscheine ausgestellt, damit sie problemlos nach Moers reisen können.

Es wird bestimmt nicht leicht, die Zuschauer Pfingsten vor die Laptops zu locken. Wie interaktiv ist das Moers Festival? Und wer ist überhaupt Miss Unimoers?

Isfort Miss Unimoers ist der einzige Gast in der Festivalhalle und ein Lichtwesen, das vor 1972 die Gründung des Moers Festivals vorangetrieben hat und natürlich längst weiß, wer 2046 im Park spielen wird. Sie ist Teil unseres Erzählformats und wird vor einem Green Screen agieren, kommentieren und erzählen. Unsere Zuschauer sollen keine Aneinanderreihung von Musikbeiträgen erleben. Sie können mit ihren Likes und positiven Reaktionen zum Beispiel ein besonders schönes Solo honorieren. Wir spielen dazu den Applaus aus 48 Jahren Moers Festival ein, den auch die Musiker hören werden. Außerdem möchten wir erfahren, wo sie das Moers Festival erleben: auf dem Balkon, beim Picknick oder am Rhein-Ufer. Sie sind aufgefordert, uns Selfies zu schicken. Lena Entezami wird als Moderatorin im Arte-Studio Interviewpartner empfangen. Und es kann auch sein, dass Spaziergänger ganz analog im Park und in der Stadt auf unser Pianomobil und den einen oder anderen Künstler treffen, der gerade ein Solo spielt.

Welche Bedeutung hat denn das Festival 2020 im Vergleich zu den Ausgaben in den Vorjahren?

Isfort Wir müssen es als Chance verstehen. Die Welt wird nach 2020 nicht dieselbe sein. Wir werden nicht so schnell zu unserer sogenannten Normalität zurückkehren können. Die Pandemie wird zu Veränderungen führen, die sich genauso wie die Loveparade-Katastrophe vor zehn Jahren in Duisburg auf Veranstaltungen wie unsere auswirken werden. Das Moers Festival 2020 steht auf der Vorstufe zum Hybriden, einer Mischung mit begleitenden digitalen Formaten. Und wir probieren das jetzt schon aus. Da liegen wir mit unserem Motto „New ways to fly“ ganz nah dran.

Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort