Moers Komplexer Klang von Sprache und Musik

Moers · In der Reihe "Frequenzen" traf moderne Musik von Gerhard Stäbler auf Auszüge aus Wolfgang Herrndorfs Roman "Bilder deiner großen Liebe".

 Schauspielerin Magdalene Artelt trug den Text vor, der Perkussionist Arnold Marinissen sorgte für musikalische Schlaglichter.

Schauspielerin Magdalene Artelt trug den Text vor, der Perkussionist Arnold Marinissen sorgte für musikalische Schlaglichter.

Foto: KLaus Dieker

Ein klanglich wie literarisch äußerst komplexer und kontrastreicher Abend, gespickt mit teils eigenwilligen szenischen, sprecherischen und musikalischen Raffinessen, bot sich dem Publikum bei der Premiere von "Frequenzen II" am Sonntagabend im Peschkenhaus. Diese Produktion ist Teil von insgesamt vier musikalisch-szenischen Lesungen, die das Schlosstheater Moers (STM) zusammen mit den Duisburger Komponisten Kunsu Shim und Gerhard Stäbler in dieser Spielzeit unter dem Motto "Freie Radikale" erarbeitet.

Der im Dachgeschoss des Peschkenhauses nun vorgestellte zweite Teil in dieser Veranstaltungsreihe war übertitelt mit "Bilder deiner großen Liebe" und hatte den gleichnamigen Roman von Wolfgang Herrndorf zum Inhalt. Die Fragment gebliebene 2014 erschienene Erzählung, eingestrichen vorgelesen von Schauspielerin Magdalene Artelt, traf hier auf die Komposition "Cassandra" von Gerhard Stäbler. Die szenische Einrichtung der 60-minütigen Produktion besorgte Schlosstheater-Intendant Ulrich Greb.

Stäblers "Cassandra" war ursprünglich eine Auftragskomposition für die Uraufführung des Tanzstückes "Kassandra" von Birgit Scherzer 1997 am Saarländischen Staatstheater. Ein Jahr zuvor entstand abseits des Bühnengeschehens eine davon unabhängige autonome Fassung: "Musik für Stimmen, Schlagzeug und Tonband" heißt das neun Klangbilder umfassende Zweitwerk. Weite Teile daraus verwendeten Stäbler als Sprecher zusammen mit dem Niederländer Arnold Marinissen am Schlagzeug in der Moerser Lesung.

Was verbindet die Hauptfigur Isa in Herrndorfs Roman mit der mythologischen Figur Kassandra zur Zeit der Antike? Die 14-jährige Isa ist ein vagabundierender anarchischer Freigeist. Barfüßig läuft das Mädchen auf der Suche nach ihrem Freitod durch Deutschland und begleitet somit im übertragenen Sinne ihren Autor auf dessen ebenso letzter Reise. Denn nach der Diagnose eines festgestellten Hirntumors, nahm sich Herrndorf 2013 das Leben. Kassandra ist ebenso eine Außenseiterin, eine an die Oberschicht gefesselte Frau, in einem Staat, der sich zu einem Patriarchat entwickelt hat. Sozial gebunden an die herrschende Oberschicht, emotional gefesselt an ihren Vater, an die Geschichte und Gegenwart des Königshauses, erlebt sie einen langwierigen Prozess der Loslösung - und entscheidet sich letztlich für die Autonomie und damit ebenfalls für ihren Tod.

Erzählt wurden die beiden Handlungsstränge durch szenisches Ineinandergreifen: Der gekürzte Herrndorf-Roman gab Zeit und Raum vor, während die teils umgestellten Klangbilder der Stäbler-Komposition eine Art Überbau schufen. Artelt durchstreifte bei ihrem Vortrag lesend die gesamte Dachbodenfläche, während Stäbler die in einer Kunstsprache "extrem-hysterisch" (wie es in der Partitur an dieser Stelle heißt) vorgetragene Vokalperformance aus der Tiefe des Raumes zu Gehör brachte. Marinissen dagegen folgte beiden Spuren und setzte gekonnt hier wie da seine musikalischen Schlaglichter.

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