Gastkommentar von Jürgen Schmude „Ja, die Erinnerung ist nicht erfreulich“

Jürgen Schmude wurde am 9. Juni 1936 in Ostpreußen geboren. Viele Jahre seines Lebens verbrachte er in Moers, machte am Adolfinum Abitur und erlebte das Kriegsende in der Grafschaft. Bei der Gedenkveranstaltung am Widerstandsmahnmal vor dem Alten Landratsamt in Moers am 3. März 2020 erinnerte der frühere Bundesminister und Präses der Synode der evangelischen Kirche an die schrecklichen Tage des Krieges. Er machte deutlich, weshalb das Erinnern für die Zukunft so wichtig sei.

 Jürgen Schmude während des Gedenkens am Mahnmal.

Jürgen Schmude während des Gedenkens am Mahnmal.

Foto: Bettina Engel-Albustin | Fotoage

Etwa ein Jahr vor dem Ende des Zweiten Weltkrieges musste ich seine verhängnisvolle Wirkung ganz aus der Nähe im Haus meiner Eltern erleben. Eine junge Frau weinte, sie schrie und wollte nicht aufhören. Ich war damals acht Jahre alt und so erschüttert, dass ich dieses tragische Erlebnis bis heute nicht vergessen kann. .

Die junge Frau wurde gerade besucht vom Ortgruppenleiter der NSDAP, der Nazipartei. Er brachte einen Brief und erklärte den Inhalt. Vom Heldentod redete er, vom Sterben für den Führer und für das deutsche Volk. Dabei ging es um den Bruder der jungen Frau. Er war als Soldat im Krieg gestorben. „Gefallen“ nannte man das.

Einige Wochen später wiederholte sich die schreckliche Szene. Auch der andere Bruder der jungen Frau hatte den Soldatentod erlitten.

In unzähligen Familien wird das so gewesen sein Nicht nur bei uns in Deutschland, sondern auch in englischen, amerikanischen und russischen Familien und in den Familien vieler anderer vom Krieg betroffenen Länder. Ihnen wurden die Väter, die Männer, die Söhne und Brüder genommen. Die trauernden Familien wurden zu Kriegsopfern.

Den Familien der englischen, kanadischen und anderen Soldaten ist es so ergangen, die auf dem englischen Soldatenfriedhof bei Kamp-Lintfort beerdigt sind. Sehr viele sind zwischen Februar und April 1945 gestorben, hier bei uns am Niederrhein. Auch die fast zweittausend Deutschen auf dem in der gleichen Gegend liegenden deutschen Soldatenfriedhof starben in dieser Zeit.

War der Krieg unabwendbar, vom Schicksal gewollt? Das war er nicht. Bundespräsident Richard von Weizsäcker hat uns 1985 in seiner Rede zum vierzigsten Jahrestag des Kriegsendes im Einzelnen dargelegt, wie Adolf Hitler, der „Führer“, deutschen Generälen seine Kriegsabsicht gegen Polen erklärt hat. Es ging ihm dabei um Eroberung von Lebensraum für das deutsche Volk „ohne Rücksicht auf Recht und Unrecht oder auf Verträge“. Polen sollte vernichtet werden, mit erbarmungsloser Härte.

Weizsäckers Rede hat uns beeindruckt, sie hat uns davon überzeugt, dass das Kriegsende auch für uns Deutsche eine Befreiung war. Der AFD-Spitzenfunktionär Höcke hat diese Rede vor kurzem als „Rede gegen das deutsche Volk“ bezeichnet. Mit den darin geschilderten Tatsachen hat sich Höcke nicht befasst. Ihm passt die Rede nicht, er will von der deutschen Schuld am und im Krieg nichts hören. Damit ist er in seiner Partei nicht allein.

Ja, die Erinnerung ist nicht erfreulich. Aber sie ist unerlässlich, wenn wir die erneute Anbahnung solchen Unheils, solcher Verbrechen frühzeitig erkennen wollen. Genau das ist das Bestreben unseres seit 25 Jahren bestehenden Moerser Vereins „Erinnern für die Zukunft“. Wenn es ihn nicht gäbe, müssten wir ihn jetzt gründen, als klare Absage an diejenigen, die die Erinnerung, an staatliche deutsche Verbrechen im eigenen Land und gegen andere unterdrücken, die diese Untaten beschönigen und bagatellisieren.

Der AFD-Funktionär Höcke möchte sich mit deutscher Schuld nicht befassen. Er wirft stattdessen den alliierten Kriegsgegnern vor, deutsche Städte bombardiert zu haben. Ja, das war schrecklich und kritikwürdig. Dabei müssen wir aber bedenken, dass die deutsche Luftwaffe in dem von der Führung ausgerufenen „totalen Krieg“ schon zu Kriegsbeginn Städte bombardiert hat. Beim deutschen Einmarsch in Polen ist das geschehen, wo Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier vor kurzem eine der betroffenen Städte besucht hat. Beim Überfall auf Holland ist Rotterdam bombardiert worden. Auf die Drohung hin, dass Gleiches der Stadt Utrecht geschehen werde, hat die Regierung der Niederlande kapituliert. Andere Ziele deutscher Bomben hat es ebenfalls gegeben, z. B. die spanische Stadt Guernica schon vor dem Krieg, später das englische Coventry und sogar London.

Die „erbarmungslose Härte“ traf nicht nur Städte. Auch einzeln oder in Gruppen wurden die Menschen von der deutschen Luftwaffe angegriffen. So wurden 1939 bei Bydgoszcz/Bromberg Bomben in eine Ansammlung von Deutschen geworfen, die in der Gegend lebten. Als Zivilisten waren sie leicht erkennbar, als Deutsche nicht. Mein Cousin Gunter Stoeckmann, gerade 15 Jahre alt, war eines der Todesopfer der deutschen Bomben.

Die Kapitulation Deutschlands konnte am Ende selbst mit Bombardierungen nicht erzwungen werden. So wurde weitergekämpft, als die Niederlage schon mit Händen zu greifen war. Der Endsieg wurde von der Führung uneinsichtig angekündigt, und wer widersprach, wer seine Stadt durch eine weiße Fahne vor einem Artilleriebeschuss bewahren oder sein Leben als Soldat oder Volkssturmmann vor dem ebenso wahrscheinlichen wie sinnlosen Tod retten wollte, wurde erschossen oder öffentlich aufgehängt. Noch im Frühjahr 1945 richtete die Reichsregierung zahlreiche Standgerichte ein, um etwaige Zweifler und Verweigerer zu bestrafen.

In den heftigen Kämpfen am Niederrhein sollten die amerikanischen und englischen Truppen an der Überquerung des Rheins gehindert werden, so ein ausdrücklicher „Führerbefehl“. Das war aussichtslos und trotzdem: Bis zum „letzten Blutstropfen“ sollten die deutschen Soldaten kämpfen. „Wir wollen lieber sterben als kapitulieren,“ sagte der Propagandaminister Goebbels.

1918, am Ende des Ersten Weltkrieges gingen die Generäle Hindenburg und Ludendorff zum Kaiser, um ihn von der Aussichtslosigkeit weiteren Kämpfens zu überzeugen, nachdem die gegnerischen Truppen die deutschen Grenzen überschritten hatten. Deutschland sei nun nicht mehr zu verteidigen, sagten sie und erreichten die Kapitulation des Deutschen Reiches.

Trotz der noch größeren Bedrängnis des Frühjahrs 1945 wiederholte sich der Vorgang nicht. Adolf Hitler hätte Generäle mit solchem Anliegen wahrscheinlich erschießen lassen, wie er es mit anderen Personen bis zuletzt getan hat.

Auch lag ihm die Rücksichtnahme auf das unter dem Krieg leidende deutsche Volk fern. Es habe vor der Größe seiner Aufgabe versagt, erklärte er noch kurz vor seinem Tod, und äußerte sich verächtlich über die Menschen, die einen solchen Führer wie ihn nicht wert gewesen seien. Erst nachdem er sich Ende April selbst getötet hatte, war der Weg zur Kapitulation frei. Eine Woche später war der Krieg zu Ende. Wir atmeten auf.

Wir waren befreit von der ständigen Gefahr für Leib und Leben, an der Front und in den Städten. Wir waren befreit von einer Führung, die gegen das eigene Volk wütete, bis zuletzt. Schluss war es damit, dass jüdische Mitbürger, auch aus Moers, in den Tod deportiert wurden, und auch damit, dass Juden in den von deutschen Truppen besetzten Ländern aufgespürt und ebenfalls in die Todeslager verbracht wurden. Dieses sogar noch, als Deutschland die für den Krieg benötigte Kraft nicht mehr aufbrachte, gleichwohl das bewaffnete Personal und die Transportmittel einsetzte, um den Mord an den in jahrelanger Hass- und Angstpropaganda abgewerteten jüdischen Menschen stur fortzusetzen. Weniger geisteskrank als die heutigen rechtsextremen Mörder kann die Nazi-Führung doch eigentlich nicht gewesen sein. Oder aber die jetzigen Täter sind eben nicht krank, sondern einfach Verbrecher.

Angstpropaganda gibt es leider auch heute. Die AFD schürt Fremdenfurcht durch die Behauptung, die Bundesregierung und die sogenannten Altparteien hätten mit der Aufnahme von Flüchtlingen „alimentierte Messermänner und Kopftuchmädchen“ ins Land gelassen. Das deutsche Volk solle durch herbeigeholte Ausländer ersetzt werden. So grotesk das ist, es findet seine Abnehmer, auch gewaltbereite. Wir müssen diesem gefährlichen Unsinn nachdrücklich widersprechen. Zugleich müssen wir unermüdlich an das mörderische Regiment der Nazi-Diktatur erinnern und dürfen deren Opfer nicht in Vergessenheit geraten lassen. Die Verlegung der an Moerser Naziopfer erinnernden Stolpersteine und die Benennung der Moerser Gesamtschulen nach Anne Frank, den Geschwistern Scholl und Hermann Runge sind und bleiben richtig.

Freiheit, Demokratie und Rechtsstaat konnten wir in Deutschland erst festigen, nachdem wir unter großen Verlusten, auch unserer damaligen Kriegsgegner, vom Naziregime befreit worden waren. Das vergessen wir nicht, dafür bleiben wir dankbar und wissen uns verpflichtet, jegliche Wiederholung des vor 75 Jahren beendeten Unheils wachsam und mit aller Kraft zu verhindern.

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