Moers Hinter dem Kirschgarten

Moers · Das Schlosstheater startete mit Anton Tschechows Komödie "Der Kirschgarten" in die neue Spielzeit: Ulrich Greb inszeniert eine surreale Studie über die Schönheit ohne Nutzen, die lehrt, dass vieles ein Kirschgarten sein kann.

Am Ende bricht die Zeit der Kälte an, und es schneit auf jeden Einzelnen. Der Kirschgarten, um den es sich zu kämpfen gelohnt hätte, ist abgeholzt. Kurz und klein geschlagen wie das weinende Klavier, das Frank Wickermann als Kaufmann Lopachin sinnbildlich mit der Axt zertrümmert. Regisseur Ulrich Greb inszeniert Anton Tschechows Komödie "Der Kirschgarten" in der intimen Atmosphäre des sanierten Schlosses als eine entblößende, zuweilen surreale Studie über Schönheit ohne Nutzen oder Wirtschaftlichkeit. Die Schauspieler sind wie Chronisten, die in einer lähmenden Warteschleife harren, auf dass andere die Entscheidung über den Kirschgarten fällen.

Der Regisseur greift literarisch quasi selbst zur Axt und rationalisiert das Personal des Tschechow-Stücks von mehr als zwölf auf so viele Schauspieler, wie das Ensemble des Schlosstheaters eben hat: auf fünf. Patrick Dollas, Matthias Heße, Katja Stockhausen, Marieke Kregel und Frank Wickermann eigenen sich von den Nebenrollen heraus die Hauptrollen an.

Überraschende Komik

Erst ist Marieke Kregel Dunjascha, dann übernimmt sie Anja, Ranewskaja und Charlotta. Dabei sind die Übergänge fließend, von einem Moment zu nächsten wechseln die Schauspieler die Figuren, Gestik und Sprache ändern sich. Ulrich Greb spitzt diesen Rollentausch weiter zu, indem er Marieke Kregel und Katja Stockhausen simultan die hoch verschuldete Gutsbesitzerin Ranewskaja spielen und wetteifernd Sätze wiederholen lässt. Er ist wie der Nachhall in einem bösen Traum. Tschechows Figuren treffen in einer behaglichen Wohnstube aufeinander, die Birgit Angele für diese Inszenierung geschaffen hat: ein Klavier, ein gedeckter Tisch, ein hundert Jahre alter Schrank und viele Klappstühle. Hier verhandeln sie die Versteigerung des Kirschgartens. Es herrscht eine Atmosphäre voller unterschwelliger Aggression, die zuweilen ausbricht: Die Wiedersehensfreude ist so groß, dass es erst zur wilden Knutscherei zwischen Lopachin und Ranewskaja kommt. Als der Kaufmann dann vorschlägt, den Kirschgarten abzuholzen, um Sommerhäuser zu bauen, hagelt es Ohrfeigen. Überhaupt liegt der Inszenierung eine wunderbare, in dem jeweiligen Moment unerwartete Komik inne: Da tappst Matthias Heße als Pischtschik mit nacktem Oberkörper wie ein steifer Balletttänzer über die Bühne. Dann erklingt Musik, die Schranktüre öffnet sich wie von Geisterhand.

Das Publikum erwartet das jüdische Orchester, zu sehen bekommt es ein Cello und eine Geige. Anton Tschechow hatte für seine Komödie kein Happy End vorgesehen. Er entlarvte lieber als scharfsinniger Beobachter die Menschen in gesellschaftlichen Umbruchsituationen. Und das tut auch Ulrich Greb. Er schickt das Publikum mit der Erkenntnis in die Premierenfeier, dass der Kirschgarten alles sein kann, was nicht gewinnbringend ist, sondern einfach nur schön – das Theater selbst zum Beispiel.

(RP)
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