Blick ins Stadtarchiv Was von den 1920er Jahren in Moers blieb

Daniela Gillner leitet das Stadtarchiv. Im Gespräch berichtet die 36-Jährige Spannendes aus ihrer Arbeit.

 Angegilbt und staubig, aber schön: Stadtarchivarin Daniela Gillner kann von derartigen historischen Dokumenten gar nicht genug im Archiv haben.

Angegilbt und staubig, aber schön: Stadtarchivarin Daniela Gillner kann von derartigen historischen Dokumenten gar nicht genug im Archiv haben.

Foto: Christoph Reichwein (crei)

Die deutsche Kriminal-Fernsehserie „Berlin – Babylon“, eine Ausstellung zu 100 Jahren Bauhaus oder Berichte über die Berliner Revuen der 1920er Jahre, zum Beispiel mit Marlene Dietrich: Die „Roaring Twenties“, die brausenden 20er, wie sie in den USA heißen, sind in Mode. Die Zeit zwischen 1918, dem Ende des Ersten Weltkriegs, und 1929, dem Beginn der Weltwirtschaftskrise, war eine Zeit der großen Umwälzungen. Sie steht für das Zeitalter der Moderne, für neue Kunst, neue Musik und neue Architektur. Sie steht auch für gesellschaftliche Veränderungen, beispielsweise das Frauenwahlrecht. Stadtarchivarin Daniela Gillner erzählt, wie die Zeit dieser Umwälzungen in Moers aussah und was geblieben ist.

Frau Gillner, waren die 1920er Jahre in Moers so brausend und so golden wie in Berlin?

Daniela Gillner Moers war nicht Berlin. In der Kreisstadt am Niederrhein ging es viel ruhiger zu als in der Großstadt Deutschlands. Dabei war es im Berlin der „Goldenen 20er Jahren“, wie die Jahre von 1924 bis 1929 oft genannt werden, nur für wenige golden. Menschen verklären gerne die Geschichte. Schon immer sagten sie: „Früher war alles besser.“

Außerdem waren die Jahre in der Grafenstadt nicht „brausend“ oder golden, weil sie und die umliegenden Gemeinden nach dem Ersten Weltkrieg besetzt waren.

Gillner Der linke Niederrhein hat in den 1920er Jahren eine besondere Entwicklung genommen. Zum einen war Moers bis zum Januar 1926 von belgischen Truppen besetzt, wie der gesamte linke Niederrhein von alliierten Truppen. Durch die Besetzung war das normale Leben eingeschränkt, weniger frei als in anderen Teilen Deutschlands.

Die Moerser scheinen keine Freunde der Besatzer gewesen zu sein.

Gillner 3500 Einzelfälle von Entschädigungen sind im Stadtarchiv dokumentiert, von Einzelpersonen und Unternehmen. Es sind ganz unterschiedliche Fälle. Es konnte um Neubeschaffung von Bettzeug gehen, das von Soldaten bei einer Einquartierung entwendet worden war. Vasen, die durch Soldaten kaputt gegangen waren, sollten ersetzt werden. Oder jemand wollte entschädigt werden, der Waffen abgeliefert hatte. Im Computer sind die Akten mit Themen, Namen und Straßen erschlossen. Die einzelnen Akten liegen in Papierform im Bestand. Aus den Fällen lasse sich erkennen, welche Stimmung die Menschen hatten, wie sie lebten und was ihnen wichtig war. Leider sind diese 3500 Akten nicht aufgearbeitet, weil eine Person mehrere Jahre Zeit dafür benötigen würde.

Dabei sieht niemand diese Zeit, die Archivarbeit kostet, außer jemand, der selbst einmal in einem Archiv gesessen hat.

Gillner Ja. Archivarbeit ist Detektivarbeit. Oft genug findet man nicht die Information, die man gesucht hat, dafür eröffnet sich aber wieder eine andere Möglichkeit. Das alles nimmt eine Menge an Zeit in Anspruch. Hinzu kommt noch, dass man immer eine gewisse Vorstellung von den geschichtlichen Zusammenhängen haben und sich auch nicht vor unbekannten Schriftarten scheuen sollte.

Neben der Besatzung hat die Region in den 1920er Jahren eine besondere Entwicklung genommen, weil in der Moerser Umgebung die Bergwerke expandierten, zum Beispiel in Repelen, aber auch zwischen Neukirchen und Vluyn sowie in Lintfort. Es entstanden zahlreiche neue Gebäude. Heute gibt es in der Region so viele Gebäude aus den 1920er Jahren wie in kaum einer anderen Region in Deutschland.

Gillner Moers hat vor 100 Jahren Häuser erhalten, die das Bild der Stadt bis heute prägen. Dazu zählen zum Beispiel das Ensemble der St.-Marien-Kirche in Hochstraß oder die Alte Kolonie in Repelen, deren Bau Ende der 20er Jahre begann. Die Mattheck gehört auch dazu, die an der Ecke von Klever Straße und Essenberger Xantener Straße für belgische Soldaten gebaut wurde. Die Denkmalschützer haben diese Gebäude längst entdeckt.

Aber im kollektiven Bewusstsein der Moerser sind sie kaum präsent, anders als zum Beispiel das Schloss, die Stadtkirche oder die Meerbecker Siedlung.

Gillner Das ändert sich vielleicht in den 2020er Jahren, weil die Gebäude sehr markant sind. Vielleicht wird in dieser Dekade einmal ihre Geschichte aufgearbeitet. Warum sind sie entstanden? Wer hat dort gewohnt? Welche Geschichten haben sich dort ereignet? Die Akten dieser Gebäude liegen übrigens nicht im Stadtarchiv, sondern im Bauaktenarchiv. Die Gebäude stehen ja noch – und das nach fast einem Jahrhundert. Sie werden vermutlich noch lange Zeit stehen.

Finden sich diese Gebäude auf Fotos oder Ansichtskarten wieder?

Gillner Wir haben fast keine zeitgenössischen Fotos aus der Weimarer Zeit im Bestand. Motive auf Postkarten sind immer mit Vorsicht zu betrachten, weil gerne ergänzt oder wegretuschiert wurde.

Neben Akten zu belgischer Besatzung, Gebäuden und wenigen Postkarten haben Ausgaben des „Grafschafter“ überlebt, einer Vorläuferzeitung der Rheinischen Post.

Gillner Die Ausgaben des Grafschafters aus den 20er Jahren sind lückenlos vorhanden. Damals bestand der Grafschafter aus nur vier großen Seiten, die eng bedruckt waren. Fotos gab es fast gar nicht. Im Februar 1920 war überregional der Friedensschluss mit der Sowjetunion Thema, nachdem der Erste Weltkrieg gut ein Jahr vorbei war. Dazu kamen lokale Ereignisse.

Wie sieht es mit weiteren Dokumenten aus den 1920er Jahren aus, zum Beispiel von Einzelpersonen oder Vereinen?

Gillner Die Überlieferung für diese Dekade ist für die einstige Stadt Moers nicht sehr gut. 1942 gab es einen Bombenabwurf über dem Rathaus. Damals ist viel verbrannt. Besser ist der Bestand für die Gemeinden Repelen-Baerl und Kapellen. Von Einzelpersonen, Vereinen, Gewerkschaften, Wohlfahrtsorganisationen oder Kirchen ist leider sehr wenig überliefert.

Sind Akten nach dem Zweiten Weltkrieg entnazifiert worden, also Akten gezielt vernichtet worden, damit Personen in der neuen Bundesrepublik nicht mehr mit ihrer NS-Vergangenheit belastet werden konnten?

Gillner Das lässt sich kaum sagen, weil der Brand 1942 und die Besetzung vor dem Kriegsende 1945 zeitlich nah beieinander liegen.

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