Serie Auf Der Flucht "Das sind heute ganz andere Deutsche"

Moers · Bernhard Schmidt beleuchtet für die Ausstellung "Flucht vom Niederrhein" im Grafschafter Museum das Schicksal der Zwangsarbeiter.

 Bernhard Schmidt lernte Nikolai Jerofejewitsch Ogijenko 2002 in Moers kennen. Zwischen beiden entwickelte sich ein intensiver Briefverkehr.

Bernhard Schmidt lernte Nikolai Jerofejewitsch Ogijenko 2002 in Moers kennen. Zwischen beiden entwickelte sich ein intensiver Briefverkehr.

Foto: aka

Moers Dreimal hat Nikolai Jerofejewitsch Ogijenko versucht, vom Niederrhein zu fliehen - aus den Lagern der Waggon-Fabrik in Uerdingen, des Salzbergwerks Borth und zuletzt der Zeche Friedrich-Heinrich in Kamp-Lintfort. Jeder Versuch war vergebens. Die Nationalsozialisten hatten ihn im Mai 1942 zur Zwangsarbeit nach Deutschland verschleppt. Der Ukrainer war gerade 19 Jahre alt. Seine Odyssee führte ihn noch auf verschiedene Bauernhöfe und in Fabriken in der Region. Er kam erst frei, als die US-Armee 1945 einmarschierte.

Der Historiker Bernhard Schmidt lernte Ogijenko 2002 in Moers kennen. Seit 1996 lädt der "Verein Erinnern für die Zukunft" ehemalige Zwangsarbeiter in die Grafenstadt ein. "Wir sind uns sehr nahe gekommen", berichtet Schmidt. "Er war ein hochintelligenter Mann, Historiker und als Geschichtslehrer ausgezeichnet. Und er hat uns von seinem Schicksal bereitwillig erzählt."

Nikolai Jerofejewitsch Ogijenko kam 1922 in Morovska, einem Dorf in der Region Kiew, zur Welt. Er studierte an der Landwirtschaftlichen Akademie in Moskau. In der Ukraine übernahm er nach dem Studium die Leitung einer Aussaatkampagne und war laut Schmidts Recherchen mit der Transferierung von Kolchose-Vermögen nach Sibirien beauftragt - bis die Deutschen ihn verschleppten. "Im Frühjahr 1943 betrug die Zahl der Kriegsgefangenen und Ostarbeiter im Arbeitsamtsbezirk Moers-Geldern etwa 19.000. Mehr als 930 dieser jungen Leute sahen ihre Heimat nicht wieder", hat Bernhard Schmidt für die Ausstellung "Flucht vom Niederrhein" recherchiert, die zurzeit im Grafschafter Museum im Moerser Schloss zu sehen ist. Für Ogijenko muss vor allem der Einsatz auf Friedrich Heinrich die Hölle gewesen sein.

 Nikolai Jerofejewitsch Ogijenko besuchte viele der Stätten wie die Zeche, in denen er nach seiner Deportation als Zwangsarbeiter eingesetzt worden war. Oben rechts: ein Bild des Ukrainers als junger Mann.

Nikolai Jerofejewitsch Ogijenko besuchte viele der Stätten wie die Zeche, in denen er nach seiner Deportation als Zwangsarbeiter eingesetzt worden war. Oben rechts: ein Bild des Ukrainers als junger Mann.

Foto: Archiv Bernhard Schmidt

In Interviews mit Bernhard Schmidt berichtete er, dass die Arbeitsbedingungen und die Verpflegung schrecklich gewesen seien. Um das Lager hätten Wachtürme und drei Reihen Stacheldraht gestanden. "Zwischen 1940 und 1945 haben Hunderte von Kriegsgefangenen und zivilen Zwangsarbeitern versucht, vom Niederrhein zu fliehen", berichtet Schmidt. Die meisten wurden wieder aufgegriffen und bestraft oder sogar erschossen." Anfang 1944 sei Ogijenko schließlich zunächst in eine Zementfabrik nach Essen gekommen, später in ein Lager in Jülich. Nachdem dieses heftig bombardiert worden war, sei es aufgelöst worden. Nach seiner Befreiung arbeitete Nikolai Ogijenko laut Schmidt als Agronom bei Magdeburg in einer Selbstversorgungseinrichtung der Sowjetarmee. Im Oktober 1945 kehrte der Ukrainer in seine Heimat zurück, begann ein pädagogisches Studium, wurde Lehrer für Geschichte, Literatur und Russisch. Und: "Er schrieb mehrere Bücher", berichtet Bernhard Schmidt.

60 Jahre nach seiner Deportation kehrte Ogijenko auf Einladung des Vereins "Erinnern für die Zukunft" noch einmal nach Deutschland zurück. Er besuchte seine früheren Arbeitsstätten und traf sich auf einigen der Bauernhöfe mit den Nachkommen der damaligen Besitzer. "Trotz der schrecklichen Erlebnisse war er mehr als versöhnlich", erinnert sich Schmidt an die Begegnung mit dem Ukrainer. Was ihn besonders freute: "Nach seiner Rückkehr schrieb Ogijenko mehrere Zeitungsberichte über seinen Besuch in Moers." Ogijenkos Fazit nach der Reise: "Das sind heute andere Deutsche als damals." Dieser Zeitungsausschnitt ist in der Sonderausstellung im Grafschafter Museum ausgestellt. Zwischen Schmidt und Ogijenko entwickelt sich ab 2002 ein intensiver Briefverkehr, der mehr als ein Jahrzehnt andauern sollte. "Ich habe einen ganzen Leitz-Ordner mit Korrespondenz", erzählt Schmidt.

Die Schmidts besuchten ihn und seine Familie auch am Schwarzen Meer. Der Ukrainer starb 2015 im Alter von 92 Jahren. 2016 besuchte seine Tochter die Stadt Moers und brachte wichtige Dokumente mit, die Schmidt für seine Recherchen benötigte. "Sie lebt heute Dnipro. Wir haben den Gegenbesuch in die Ukrainer für die Osterferien geplant", erzählt der Moerser und freut sich. Schmidt, der sich seit 1985 mit dem Schicksal der Zwangsarbeiter beschäftigt, gab 2008 die Dokumentation "Moers unterm Hakenkreuz" heraus. Es wurde in Kiew ins Russische übersetzt. Die Sonderausstellung "Flucht vom Niederrhein" läuft bis März im Grafschafter Museum im Moerser Schloss.

(RP)
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