Jürgen Dollase Zum Genießen muss man Platz im Kopf schaffen

Mönchengladbach · Restaurantkritiker Jürgen Dollase über seinen Weg vom Fast Food zur Gourmetküche und Wirsingvariationen als Prüfung für Profi-Köche.

 Jürgen Dollase war und ist Musiker, Maler und Restaurantkritiker. In den 1970er Jahren hatte er mit der Band Wallenstein großen Erfolg. Rechts das Plattencover für den Single-Hit "Charline". Dollase ist unten links zu sehen.

Jürgen Dollase war und ist Musiker, Maler und Restaurantkritiker. In den 1970er Jahren hatte er mit der Band Wallenstein großen Erfolg. Rechts das Plattencover für den Single-Hit "Charline". Dollase ist unten links zu sehen.

Foto: Raupold/RCA

Herr Dollase, Sie waren und sind Musiker, Maler und Restaurantkritiker. In den 1970er Jahren hatten Sie mit der Band Wallenstein großen Erfolg, dann haben Sie gemalt. Heute sind Sie einer der renommiertesten Gastrokritiker. Welche Profession haben Sie am liebsten ausgelebt?

Dollase Ich fühle mich dann wohl, wenn auch der handwerkliche Bereich eine Rolle spielt, und das ist in allen drei Bereichen so. Auf meine Musikervergangenheit sehe ich neutral zurück, da habe ich das Gefühl, meine Möglichkeiten nicht voll ausgeschöpft zu haben. Meine jetzige Art zu arbeiten, passt zu meiner Persönlichkeit. Ich kann selbstständig arbeiten und entscheiden. Das ist für mich die ideale Form.

Wie kamen Sie als überzeugter Fast- Food-Konsument zu Ihrer Leidenschaft für gutes Essen und engagiertes Kochen?

Dollase Das war eine Entwicklung. Es fing schon 1979 an, als meine Frau und ich uns an der französischen Kanalküste auf unsere jeweiligen Examen vorbereitet haben. Das Theater, das die Franzosen ums Essen machten, fand ich gut. Auch das Weintrinken ging schon ganz gut. Ich habe allerdings damals den Wein immer nur nach dem schönen Etikett gekauft. Das war kulinarisch oft Unsinn, sah aber gut aus. Auch in Paris haben wir damals immer mal französische Lebensart gespielt. Bei den Franzosen geht es ja nicht unter drei Gängen, die bietet selbst die letzte Snackbar noch an. Die Deutschen ziehen leider immer noch die kulinarische Missionarsstellung vor: eine große Portion, schnell serviert und schnell gegessen. Beim letzten halben Glas Bier bleibt man dann vielleicht noch ein bisschen sitzen.

Aber die Vorliebe für das französische Savoir vivre macht noch keinen Restaurantkritiker aus. Sie haben eine berühmte Kolumne in der FAZ, haben zu Hause in Mönchengladbach eine Testküche und probieren Dinge aus. Wie kam es dazu?

Dollase Ich habe beim Malen oft darüber nachgedacht, was ich abends koche und zum Beispiel Kochbücher wie ein Wissenschaftler ausgewertet, Karteikarten angelegt und festgestellt, dass sich die besten Köche oft nicht einig waren. Meine Frau und ich haben dann angefangen, in Sternerestaurants zu essen, um mehr über gutes Kochen zu lernen. Dass ich zur FAZ gekommen bin, war reiner Zufall. Ich hatte mich eigentlich über ein ziemlich uninspiriertes Vorwort von Johannes Groß, dem damaligen Herausgeber von "Capital", zu einem Kochbuch beschwert. Daraufhin habe ich erst von ihm ein Empfehlungsschreiben für die "Welt", dann ein Angebot für Texte auf der "Stilseite" der FAZ bekommen. Die große Kolumne "Geschmackssache" habe ich dort seit 2004.

Ist es für einen Restaurantkritiker nötig, selbst zu kochen?

Dollase Man kann nur präzise bewerten, wenn man auch selbst kocht. Eine Bewertung sollte schließlich so objektiv wie möglich sein. Da muss man Kriterien zugrunde legen, man muss Details kennen und die Dinge gut einordnen können. Viele Restaurantführer machen eher Politik und bieten wenig Service, sie wissen oft einfach zu wenig. Banal globale Kommentare sind im kulinarischen Bereich ein großes Problem. Unter Intellektuellen ist das Sport. Jeder meint, er könne sich übers Essen auslassen.

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Wie beurteilen Sie die kulinarische Lage in Deutschland?

Dollase Ich bin nicht ganz so optimistisch wie andere. Sicher, es gibt eine große Ausweitung des Angebots. Es gibt sogar in Discountern schon trinkbare Weine. Aber zum Teil stecken wir in Deutschland auch noch in der Brauhaus-Kultur fest. Ich war neulich in Regensburg in einem Brauhaus, das war etwas für Koma-Esser. Große Portionen, das Fleisch zu fest, zu fad, wie Pappe, den Geschmack gab nur das Sauerkraut, das zu salzig war. Das ist leider oft so. Es liegt aber eigentlich nicht an der deutschen Küche. Jedes traditionelle deutsche Gericht hat das Potenzial zum Spitzengericht. Aber in Deutschland hat die Spitzenküche die Verbindung zur Tradition verloren. Es gibt natürlich Ausnahmen. Neulich habe ich bei Tim Raue in Berlin Königsberger Klopse gegessen, die waren sagenhaft gut gemacht. Ich würde mir für die deutsche Regionalküche mehr Sorgfalt, aber auch mehr Glanz in den Zubereitungen wünschen.

Sie haben den Begriff der ganzheitlichen Gourmandise geprägt. Was verstehen Sie darunter?

Dollase Man sollte rund ums Essen absolut alles bedenken. Ein Beispiel: Wie kann man noch Gutes machen aus dem, was man normalerweise wegschmeißt? Beim Wirsing zum Beispiel werden Strunk und Blattgrate im Allgemeinen weggeworfen, dabei ist der Strunk hervorragend. Er schmeckt wie Spargel, wenn er richtig zubereitet wird. Aus allen traditionellen Gemüsesorten wie Rosenkohl, Steckrüben oder Rote Bete kann man eine Menge machen. Ich habe in meinem neuen Buch (Anm.: Himmel und Erde, AT - Verlag) allein 25 Zubereitungen für Steckrüben zusammengestellt. Eine gute Prüfungsaufgabe für Köche wäre: "Entwerfen Sie in einer Stunde eine achtteilige Wirsingvariation." Beim Fleisch zum Beispiel wird nur das Filet gegessen, aus Innereien wie Hirn oder Nieren wird meist nichts gemacht. Gourmets essen oft nur ein kleines Stück des ganzen Tieres. Das ist pervers. Es gibt allerdings bereits Lösungen in der Spitzenküche, aber der Transfer in die Gesellschaft hinein funktioniert im Moment noch nicht gut genug.

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Foto: Hummerstübchen

Immer mehr Menschen werden Vegetarier oder Veganer. Was halten Sie davon? Ist es eher eine Modeerscheinung oder führt es dazu, dass sich die Deutschen wieder mehr mit den Nahrungsmitteln auseinandersetzen?

Dollase Ich denke, im Mittelpunkt sollte die Frage nach der Qualität der Fleischerzeugung stehen. Die guten Köche hatten schon immer ein klares Verhältnis dazu: lieber hochwertiges und teureres Fleisch und dafür weniger. Wenn wir wieder dahin kämen, dass nur am Sonntag Fleisch gegessen würde, wäre das Problem vielleicht schon gelöst. Es gibt heute wieder Biobauern, die lassen ihre Schweine ihr Futter fast vollständig selbst suchen. Die Schweine werden nicht zu schnell gemästet und nicht zu früh geschlachtet. Sie haben ein viel besseres Leben und einen besseren Tod. Warum sollten wir dann komplett auf Fleisch verzichten?

Aber das Fleisch wäre zwangsläufig teuer. Es könnte sich nicht jeder leisten.

Dollase Ja, man würde besseres Fleisch seltener essen. Aber gutes Essen hat erst einmal nichts mit den Preisen zu tun. Es beginnt im Kopf und bei der Zubereitung. Essen wird oft mit dem Bauchgefühl in Verbindung gebracht, aber eigentlich essen die Leute mit dem Kopf. Man muss auch mal bereit sein, vom Lieblingsessen abzuweichen, andere Dinge auszuprobieren. Es ist zum Beispiel kaum möglich, einem deutschen Mann jenseits der sechzig eine hochdifferenzierte Gemüsekomposition vorzusetzen. Er wird sie nicht probieren wollen, das ist das Problem. Zum Genießen muss man Platz im Kopf schaffen.

Gibt es etwas, worauf Sie in der Küche nicht verzichten können? Oder was besonders wichtig für Sie ist? Gewürze zum Beispiel?

Dollase Ich kann auf alles verzichten. Gerade bei den Gewürzen würde ich mir eine aromatische Abrüstung wünschen. Beim Essen ist es wie bei der Musik: Man muss auch auf die leisen Stimmen hören können. Die Industrie überwürzt gnadenlos. Das ist pure Verführung, damit die Menschen mehr von diesen Produkten essen. Sie verhalten sich dann wie Suchtopfer. Der Trend zum starken Würzen ging selbst bis in die Spitzengastronomie, das hat sich aber in den letzen Jahren wieder gebessert.

Gehen Sie in Mönchengladbach gern essen?

Dollase Wenn wir zu Hause sind, koche ich meist selbst.

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(arie)
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