Mönchengladbach Wir brauchen eine neue Zivilisation

Mönchengladbach · Der Friedensnobelpreisträger Muhammad Yunus erklärt, warum die momentane Form des Kapitalismus Armut produziert und Griechenland in die Schuldenkrise geführt hat. Zudem spricht er über seine Idee der Sozialunternehmen und verrät, warum es für ihn eine Ehre ist, am 21. November in Mönchengladbach zu sprechen.

Welche Probleme werden von den Kräften des freien Marktes gelöst und welche nicht?

Muhammad Yunus Der freie Markt hat viele Probleme gelöst, viele Probleme kreiert und viele Probleme ungelöst gelassen. Er hat der Welt einen Rahmen für den Handel und die Produktion gegeben. Er hat die Kreativität des Einzelnen gefördert, Wettbewerb sichergestellt und für Wirtschaftswachstum gesorgt. Gleichzeitig hat er allerdings die Habgier entfesselt, Umweltdesaster erschaffen, zu Konflikten und Kriegen zwischen den Völkern beigetragen und ungerechte Gesellschaften erzeugt. Ferner hat er die wirtschaftlichen Probleme der Armut und Arbeitslosigkeit hervorgebracht. Regierungen mussten eingreifen, um sich um die Armen und die Arbeitslosen zu kümmern. Die Folge sind immer stärker anwachsende Haushaltsprobleme.

Führt der Kapitalismus zwangsläufig zur Armut?

Yunus Ja, das tut er. Er erzeugt und bewahrt Armut, wie die Abhängigkeit von Sozialhilfe. Die momentane Form des Kapitalismus führt zur Armut, da er die menschliche Natur falsch definiert. Menschen, die sich in der Wirtschaft engagieren, werden zurzeit dargestellt als eindimensionale Wesen, deren einzige Berufung es ist, den Gewinn zu maximieren. Dies ist ein sehr verzerrtes Bild. Menschen sind keine Roboter, die nur Geld machen. Sie sind vielmehr multidimensional. Ihr Glück kommt aus vielen Quellen, nicht nur aus jener des Geldverdienens. Die Theorie sagt, dass das optimale gesellschaftliche Resultat dann erzielt wird, wenn jedem Einzelnen auf der Suche nach seinem eigenen Vorteil freie Hand gelassen wird. Dieses verzerrte Bild der menschlichen Natur ist der fatale Fehler, der unser Denken über die Wirtschaft unvollständig und inakkurat macht. Er ist zudem verantwortlich für die multiplen Krisen, denen wir uns heute gegenübersehen.

Ist Armut unnötig?

Yunus Natürlich ist sie es. Nicht die armen Leute haben die Armut erzeugt, sondern das System. Sie ist den Menschen extern aufgezwungen worden; sie ist ihnen nicht als Individuen inhärent. Sie ist dadurch verursacht, dass das System Möglichkeiten verneint. Jede einzelne Person hat ein grenzenloses Potenzial. Aber die momentane Form des Kapitalismus erlaubt dem Einzelnen nicht, dieses Potenzial zu nutzen. Unsere Institutionen widmen sich fast vollständig den glücklichen Menschen. Die Türen für die Armen sind entweder verschlossen oder aber sie existieren nicht. Wenn eine Person durch das Raster fällt, ist sie im System verloren. Und da das System sich nicht um die Armen kümmert, müssen die Regierungen einspringen.

Wie profitiert die Welt von der Idee der Mikrokredite? Was funktionierte nicht und hat daher den Test der Zeit nicht überstanden?

Yunus Die Mikrokredite wurden geschaffen, um das Vakuum zu füllen, das die konventionellen Banken erzeugen. Die Banken gewähren ihre finanziellen Dienste nicht der Mehrheit der Weltbevölkerung. Sie argumentieren, dass nicht alle Menschen kreditwürdig seien. Diese Annahme haben wir mit der Einführung der Mikrokredite widerlegt. Mikrokredite haben bewiesen, dass selbst die Ärmsten "bankfähig" sind. Das Banksystem existiert in einer falschen Weise. Mit der Verfügbarkeit von finanziellen Dienstleistungen öffnen sich für die Armen neue Türen.

Sie können Selbstbeschäftigung erreichen. Sie können Unternehmer werden. Sie können für sich selber sorgen. Sie können sparen. Sie haben Zugang zu Versicherungsschutz und Technologie. Durch Bildungsdarlehen haben ihre Kinder Zugang zu höherer Bildung. Sie werden eine neue Generation von Unternehmern und nicht Job-Suchern. Die Mikrokredite sind bisher von den konventionellen Banken noch nicht übernommen worden. Wir sehen keinerlei Bestreben auf der Seite der Politiker, Mikrokredite durch entsprechende Gesetze in das konventionelle System zu integrieren und auf diese Weise Banken für die Armen zu schaffen.

Eine rückwärtsgewandte Politik sucht lieber eifrig nach Fehlern bei den Mikrokrediten als vielmehr die großen Möglichkeiten zu sehen. Diese Politik ist eher bereit, Mikrokredite für ihre operativen Fehler zu bestrafen, als sie beim Überwinden von institutionellen und legislativen Barrieren zu unterstützen. Mikrokredite haben in einer fundamentalen Sache Erfolg gehabt: Das Bankensystem muss gründlich aufgearbeitet werden. Es muss ein inklusives System sein, niemand darf außen vor gelassen werden. Kredit ist ein Menschenrecht.

In Bangladesch wurden Sie angeklagt wegen Beleidigung, übler Nachrede und Bestechung. Wie sehr haben Sie diese Vorwürfe verletzt?

Yunus Das sind Schikanemethoden, wenn man jemanden nicht mag. Ich vermute, dies ist ein Teil des Lebens, wenn man das bestehende System herausfordert. Es ist eine Art der Anerkennung — allerdings in der falschen Weise. Das sind verzweifelte Aktionen. Sie verlangsamen dich für eine Weile, sie schaden den Institutionen, die du über Jahre aufgebaut hast. Aber wenn du das Richtige getan hast, dann kann es nicht mehr zerstört werden. Es kann durch einen Tsunami gehen, aber es wird wieder neu erscheinen.

Welchen Weg wird die Grameen Bank einschlagen, nachdem Sie Ihre Position als Geschäftsführer verloren haben?

Yunus Die Grameen Bank ist eine hoch dezentralisierte Organisation. Sie hängt nicht von einer Person ab. Der Geschäftsführer der Grameen Bank ist in einer symbolischen Weise wichtig — er ist die Symbolfigur für die Mission der Bank. Die Grameen Bank ist eine stark missionsgetriebene Bank: Sie gehört acht Millionen Frauen, die auf dem Land wohnen und des Lesens und Schreibens unkundig sind. Es ist eine Bank, die auf Vertrauen beruht.

Der Geschäftsführer symbolisiert dieses Vertrauen, das Millionen von Menschen in die Bank haben. Weswegen es sehr wichtig ist, wer der nächste Geschäftsführer wird. Ich habe die Bank auf einen sanften Übergang von mir auf meinen Nachfolger vorbereitet. Aber die Umstände haben mich sehr schnell hinausgetrieben. Das war ein großer Schock für die Bank, da ich ihr Gründer bin. Die Menschen waren verstört ob der Grobheit, mit der alles geschah.

Wir alle sind beunruhigt, was jetzt geschieht. Die Menschen hoffen, dass die Vernunft obsiegen wird. Aber man weiß nie. Egal was geschieht, wir müssen aufstehen, um die Rechte der acht Millionen Frauen zu verteidigen, die die Grameen Bank besitzen und 97 Prozent an ihr halten. Sie haben im Einklang mit den existierenden Regeln das Recht, den nächsten Geschäftsführer zu wählen. Er darf ihnen nicht von der Regierung aufgezwungen werden.

Sie sagten einmal, die Armut wird zum Museumsstück, wenn sich die Idee der Mikrokredite realisiert hat. Waren Sie zu optimistisch?

Yunus Ich bestehe immer noch darauf, dass die Armut ins Museum gehört. Das ist lange überfällig. Sie sollte längst nicht mehr existieren. Armut steht als Zeichen für die Ignoranz, die Gleichgültigkeit und für die Fehler der Entscheidungsträger in unserer Gesellschaft. Es ist Zeit, sie als den größten Fehltritt der menschlichen Natur zu erkennen und genügend Kreativität und Entschlossenheit zu mobilisieren, um sie ins Museum zu schicken. Natürlich bin ich optimistisch, dass Armut vom Angesicht der Erde verschwinden wird.

Die Millennium-Entwicklungsziele der Vereinten Nationen zielen darauf ab, sie bis 2015 auf die Hälfte zu reduzieren. In der nächsten Phase kann sie dann auf null reduziert werden. Wann wird diese Phase enden? Bei manchen Ländern wird es 2030 sein; bei anderen Ländern wird es etwas länger dauern. Aber wir müssen uns anstrengen, um das zu erreichen. Wir haben enorme technische Möglichkeiten, um es zu schaffen. Wir haben die Kreativität und das Wissen. Wir brauchen nur unsere Entschlossenheit.

Ihre Idee, Mikrokredite an die Armen zu verteilen, wurde mehrmals kopiert. Gefällt Ihnen das, da es hilft, die Armut zu bekämpfen? Oder missfällt es Ihnen, da Menschen anfangen, mit Mikrokrediten Handel zu betreiben — eine Entwicklung, die Ihrer Idee schadet?

Yunus Ich bin glücklich darüber, dass Mikrokredite überall auf der Welt Enthusiasmus generiert haben. Fast alle Länder der Welt haben inzwischen Mikrokredit-Programme. Aber just in dem Moment, als die Mikrokredite populär geworden sind, begannen manche Menschen damit, sie fehlzugebrauchen, sie zu missbrauchen. Eine große Form des Missbrauchs kam mit der Absicht, die Methodik der Mikrokredite zum persönlichen Profit einzusetzen.

Manche Menschen machten einen enormen Gewinn und prahlten damit. Ich bin sehr traurig über eine solche Abirrung von dem Weg, den wir für die Mikrokredite entworfen haben. Mikrokredite sind ein missionsgetriebenes Business. Sie sind ein Social Business — ein Business, das Probleme lösen und nicht dem Einzelnen Geld einbringen soll. Selbst wenn jemand mit Mikrokrediten Geld machen will, sollte es ein sehr kleiner Betrag sein. Es sollte innerhalb eines gewissen Limits geschehen. Aufgrund dieser Abirrungen schlage ich nun vor, dass die "kommerzielle" Leihe an die Armen einen anderen Namen für sich finden soll. Sie sollte nicht die Ausdrücke Mikrokredite oder Mikrofinanzierung gebrauchen.

Diese Ausdrücke sollten sich nur auf jene Bank-Programme beziehen, die ausschließlich den Armen helfen und dabei keinerlei — oder nur eine minimale — Gewinnerzielungsabsicht haben. Ich hoffe, dass die zuständigen Stellen bald einschreiten werden und diese zwei Kategorien deutlich voneinander trennen. Damit die Menschen sie ohne Zweifel erkennen können.

In einer Ihrer Textil-Fabriken entfesselten Arbeiter einen Aufstand und verlangten mehr Geld für Essen und Fahrtkosten. Sind diese Arbeiter schlicht nicht dankbar genug?

Yunus Wir sprechen hier, was die Gehälter und zusätzlichen Leistungen angeht, von einer der Top-Textil-Fabriken des Landes. Die Arbeiter haben nicht so sehr wegen ihrer Gehälter demonstriert, sondern sie wollten Teilhaber der Firma werden.

Viele deutsche Unternehmer — insbesondere Leiter großer Unternehmen wie Adidas oder der Otto-Gruppe — bewundern Ihre Arbeit. Können Sie sich vorstellen, warum?

Yunus Ich freue mich sehr darüber, dass viele deutsche Unternehmen mit uns beim Social Business zusammenarbeiten. Adidas, Otto- Gruppe und BASF befinden sich inzwischen bei ihren Projekten schon in fortgeschrittenen Stadien. Wir fühlen uns sehr geehrt und ermutigt aufgrund dieser Zusammenarbeit. Das beschert uns Aufmerksamkeit auch unter weiteren Firmenchefs weltweit.

Ich denke, die Geschäftsleute mögen die Idee, mit einem wirtschaftlichen Ansatz soziale Probleme zu lösen. Sie sehen die Grenzen ihres eigenen Unternehmens, Lösungen für die sozialen Probleme der Menschen anbieten zu können; zur gleichen Zeit sehen sie die technologischen Möglichkeiten innerhalb ihres Unternehmens, mit denen sie einen großen Einfluss auf die Menschen haben.

Mit Hilfe der Idee des Social Business können sie ihre Erfahrung und Technologie direkt gegen die Probleme der realen Welt einsetzen und so eine Lösung finden, die nachhaltig ist. Ich denke, die Idee einer nachhaltigen Lösung finden sie am attraktivsten. Wenn sie das Ergebnis zufriedenstellt, dann wird diese Idee die gesamte Wirtschaftswelt von Grund auf erneuern.

Sie mögen es, beim Reisen und Vorträgehalten mit den Bürgern zu diskutieren. Wie kreativ sind die Bürger, um fundamentale Probleme zu lösen?

Yunus Sehr kreativ. Sie geben neue Ideen. Sie erklären, in welche Art Firmen sie gerne investieren, in welcher Art Firma sie gerne arbeiten würden. Sie fragen, ob sie an irgendeinem Social Business, das wir betreiben, teilnehmen können. Selbstverständlich gibt es auch kritische Stimmen. Ich treffe Menschen, die denken, ich sei von großen Unternehmen engagiert, um deren kriminellen Machenschaften zu verschleiern. Manche zweifeln an der Nachhaltigkeit des Social Business. Zu einem großen Teil besteht die enthusiastische Zuhörerschaft aus jungen Leuten. Sie freunden sich schnell mit der Idee des Social Business an. Sie wollen aktiv werden. Sie kommen mit vielen Ideen und wollen bei Firmen des Social Business praktische Erfahrungen sammeln. Auch meine Akkus füllen sich, wenn ich ihren Enthusiasmus sehe. Sie berühren mich mit ihrem Ehrgeiz, eine bessere Welt zu erschaffen.

Wie lautet Ihre Meinung als Ökonom über die derzeitige Krise des Euro?

Yunus Ich werde mich nicht in technische Details verstricken. Mein Punkt ist aber, dass Griechenland in Schwierigkeiten geriet, weil das kapitalistische System Griechenland nicht die Möglichkeiten gab, eine Lösung für das Problem der Arbeitslosigkeit zu finden. Die Regierung übernahm dann eine Rolle, die später zu groß wurde. Die Menschen gewöhnten sich an Subventionen und Sozialleistungen.

Für mich lautet die Frage nicht, wie man den Euro retten kann. Für mich lautet die Frage, wie man die Menschen retten kann — aus diesem von Menschenhand erzeugten Desaster. Es ist seltsam: Die Menschheit hat so viele unmögliche Dinge erreicht, aber es noch immer nicht geschafft, allen Menschen eine Arbeit zu geben. Alle Tiere arbeiten immerzu. Wie kommt es, dass die Menschen auf ihrer langen intellektuellen Entdeckungsreise durch die Jahrhunderte dies verloren haben?

Die Antwort auf das Euro-Problem ist: Wir müssen eine neue menschliche Zivilisation entwerfen, für die das Wort "arbeitslos" keine Bedeutung mehr hat; wir sagen ja auch nicht, dass ein Tier "arbeitslos" ist. Ich bin überzeugt, dass die Idee des Social Business bei dem Entwurf dieser neuen Gesellschaft eine starke Rolle spielen wird.

In Mönchengladbach werden Sie mit Ihrer Rede eine Vortragsreihe der Nobelpreisträger fortführen. Der Dalai Lama, Kofi Annan und Michail Gorbatschow waren schon in Mönchengladbach. Wen kennen Sie persönlich?

Yunus Ich kenne sie alle persönlich. Ich habe eine große Achtung und großen Respekt vor ihnen. Die ganze Welt wird sie für ihre historischen Rollen in Erinnerung behalten. Es ist eine große Ehre für mich, vor demselben Forum zu sprechen, vor dem auch sie schon gesprochen haben.

Fabian Eickstädt übersetzte die Antworten aus dem Englischen.

(RP)
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