Mönchengladbach Wer steckt wen in welche Schublade?

Mönchengladbach · Es sind junge Menschen, alte Menschen, Behinderte und Nichtbehinderte: Die Fotografin Meike Hanraths zeigt immer die Schokoladenseiten ihrer Models. Die Bilder verraten nichts über ihre Profession oder den gesundheitlichen Zustand.

Von Schubladen und Schokoladenseiten
8 Bilder

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Der Mann sieht aus wie ein englischer Landlord. Er trägt eine Kappe auf dem Kopf, um seinen Hals hat er ein buntes Tuch gelegt. Sein Gesicht ist freundlich, er lächelt leise. Die Fotografin Meike Hanraths hat ihn abgelichtet, und sie gibt dem Betrachter die Aufgabe, das Geheimnis hinter dem Konterfei zu finden. Sie fragt: Lehrt dieser Mann englische Sprache und Literatur des Mittelalters? Arbeitet er als Metzger in einem Supermarkt? Ist er Kurator am Museum? Oder arbeitet er in einer Behindertenwerkstatt?

Der Betrachter muss sich entscheiden. Die Fotografin hilft ihm nicht dabei. "Indem er sich mit diesen Fragen beschäftigt, setzt er sich mit den Schubladen in seinem Kopf auseinander", sagt sie. Und das ist genau ihr Anliegen. Meike Hanraths fotografiert Menschen mit und ohne Behinderungen. "Als Fotografin zeige ich Facetten, die für mich interessant sind und von denen so viele glauben, sie seien bei bestimmten Menschen nicht oder nicht mehr vorhanden - Unversehrtheit und Stärke", sagt sie. "Der Betrachter wird also keinen Unterschied machen können zwischen den Fotografierten, die häufig nur über ihr Leben in einem Frauenhaus oder ihre Behinderung wahrgenommen werden und solchen, die als ,normal' gelten."

Beim Fotoshooting sehen sich Meike Hanraths und die Models in der Regel zum allerersten Mal. "Ich muss sie öffnen, ihr Vertrauen gewinnen." Die lebhafte Fotografin ist auch in der Beziehung ein Naturtalent. Ihre respektvolle und überaus zugewandte Ansprache erreicht die Menschen - die mit und die ohne Behinderung. "Ich rede und lache die ganze Zeit. Ich bin offen, laut und kommunikativ" Eine Stylistin steht ihr zur Seite. "Ich ärgere mich immer so sehr darüber, dass viele behinderte Menschen so ungepflegt aussehen." Sie wünscht sich, dass die Angehörigen und Betreuer auf das Äußere der Kranken mehr achten würden. Die Stylistin bereitet die Porträtierten vor, Meike Hanraths macht das Foto, und dann kommt der Feinschliff am Computer. "Ich arbeite so lange an dem Foto, bis die Schönheit des Menschen herausgearbeitet ist."

Meike Hanraths hat ein großes Ziel: Sie will in diesem Jahr 200 Porträts schaffen. 50 sind es bisher, sie werden derzeit im Landeshaus des Landschaftsverbandes Rheinland (LVR) in Köln gezeigt. "Ich suche noch ganz viele Menschen, die mitmachen", sagt sie. Die Interessenten können sich auf der Seite www.schubladen.online melden. Die Fotos gehen dann auf Reisen. Sie werden gegen Ende des Jahres im Brandenburgischen Landtag in Potsdam gezeigt. 2018 gibt es eine Zusage für den nordrhein-westfälischen Landtag in Düsseldorf, ebenso für das Stadtmuseum Euskirchen, für die LVR-Kliniken in Langenfeld und Bonn, sowie in friesischen Neuenburg. "Weitere Stationen sind in der Planung. Jetzt fehlt eigentlich nur noch ein geeigneter Ort in Mönchengladbach", sagt Meike Hanraths.

Die Fotografin hatte anfangs Sorge, dass ihr Ansinnen und die Art ihrer Kunst übergriffig wirken könnten. "Ich mache den Menschen, die ich fotografiere die Haare, hülle sie in Seide, mache sie hübsch." Die Befürchtungen hat sie heute nicht mehr. "Die behinderten Menschen sind so glücklich, wenn sie sich auf dem Foto sehen", sagt sie. Sie gewinnen eine große Portion Selbstachtung. "Ihre Selbstwahrnehmung ist in aller Regel sehr schlecht und negativ."

Es ist tatsächlich so, sagt Meike Hanraths, dass sie beim ersten Blick die Schönheit eines Gesichts erkennt. "Ich sehe sofort die Schokoladenseite, und die setze ich mit Licht und mittels der Bearbeitung am Computer in Szene." Als sie zum ersten Mal in ein Frauenhaus ging, um dort zu fotografieren, wusste sie nicht, was auf sie zukommen würde. "Mir ist es ganz besonders wichtig, nicht die Verletzungen der Frauen, sondern ihre Unversehrtheit und Stärke zu zeigen." Und indem sie diese Seite offenbart, macht sie die Menschen mutiger und selbstbewusster.

(RP)
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