Mönchengladbach Von der Landgemeinde zur Industriegroßstadt

Mönchengladbach · Dass Mönchengladbach heute mehr als 270.000 Einwohner zählt, verdankt sie zu einem großen Teil der Migration im 19. Jahrhundert.

 Die Industrialisierung Mönchengladbachs ist heute unter anderem im Textil-Technikum zu erleben.

Die Industrialisierung Mönchengladbachs ist heute unter anderem im Textil-Technikum zu erleben.

Foto: Stadt MG

Heute ist es für uns selbstverständlich, dass Mönchengladbach mehr als eine Viertelmillion Einwohner hat. In der kleinen Bürgermeisterei Gladbach wohnten um 1800 beispielsweise gerade einmal 1500 Menschen. Damit drängen sich Fragen auf: wie, wann und wodurch sich dies so dramatisch geändert hat und wie dies gelingen konnte. Neben dem Schlagwort Industrialisierung kennen wir in diesem Zusammenhang Begrifflichkeiten wie Bevölkerungsexplosion, Großstadtbildung und Urbanisierung.

Es sind die Menschen, die in großem Umfang in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, ihre angestammte ländliche, meist verarmte, Situation verlassen, um an die Orte zu ziehen, die eine Arbeits- und Lebensperspektive, also eine bessere und glücklichere Zukunft versprechen. Eine Folge war die Entstehung des Mönchengladbacher Industriegebietes, dem sogenannten "Rheinischen Manchester" beziehungsweise dem "Hauptsitz der deutschen Tuchindustrie", dem wichtigen Zentrum der baumwollverarbeitenden Industrie.

Mitte des 19. Jahrhunderts beginnt auch im Mönchengladbacher Raum das, was wir heute rückblickend Industrialisierung nennen. Nach Alphons Thun wurde die erste mechanische Spinnerei in Gladbach im Jahr 1845 eingerichtet. Der Spinnvorgang bot sich als ein erster Produktionsbereich dem damals neuen mechanischen Antrieb an. Da die Spinnarbeit traditionell von Frauen ausgeführt wurde, fehlten aufgrund der erhöhten Produktivität zahlreiche Arbeiter, zunächst aber vor allem Arbeiterinnen. Auf eine ausgebildete verfügbare Industrie-Arbeiterschaft konnte nicht zurückgegriffen werden.

Während in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts im Mönchengladbacher Raum die Bevölkerung durch verschiedene Faktoren moderat zugenommen hatte, erhält sie durch den steigenden Bedarf der Textilindustrie in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts einen steilen Anstieg. Allein in den Jahren 1850 bis 1870 nahm die Bevölkerung um das Dreifache zu. Bedingt durch die sich langsam ausbreitende Mechanisierung erfolgt die Konzentration der Arbeit in den Fabriken.

Ludwig Nieder (1880-1922) vom Volksverein für das katholische Deutschland mit Sitz in Mönchengladbach fasste dies ungeschminkt zusammen: "Menschen mit und ohne Familie, die in kleineren Verhältnissen ihrer lieben ländlichen Heimat in Arbeitslosigkeit und Armut hätten verkommen müssen, fanden in den reichlichen Arbeitsmöglichkeiten der Großstadt und des großstadtähnlichen Industriebezirks eine zusagende Gelegenheit zur Ausnützung ihrer Kräfte."

Die Vorstellung aber, dass dieser Migrationsprozess ein eindimensionaler Weg war, muss verworfen werden. Die meisten Menschen zogen nicht einfach vom Land in die Stadt, sondern verließen diese nach geraumer Zeit und zogen weiter. Diese Binnenwanderung gilt als die größte Bevölkerungsbewegung in der deutschen Geschichte. Von den einwandernden Arbeitskräften blieb fast nur jeder Dritte länger.

Wie lassen sich die Wandernden sozial einordnen? Es sind in der Mehrheit junge, unverheiratete, ungelernte Zuwanderer, die ihr Glück suchen in der neuartigen industriellen Fremde. Auch Mönchengladbach profitierte von dem Zuzug von Migranten. "Die industrielle Urbanisierung im 19. Jahrhundert schwemmte eine proletarisierte Landbevölkerung in die Städte, wo sie - obwohl doch deutsche Staatsbürger wie alle - den Einheimischen wie eine fremde und bedrohliche Rasse erschienen" (W. Siebel).

Für Mönchengladbach bedeutet dies konkret einen dauerhaft zunehmenden Anstieg der Bevölkerung. Insgesamt wächst die Einwohnerschaft von 1850 bis 1900 um das Siebenfache. Die Zahlen in der Mönchengladbacher Stadtgeschichte, Loca Desiderata für Gladbach, Rheydt und Wickrath, lassen Folgendes erkennen: Bis zirka 1850 gibt es ein allgemeines moderates Bevölkerungswachstum im Mönchengladbacher Raum. Dieses beschleunigt sich danach, in Wickrath kaum, in Rheydt ansehnlich, aber in Gladbach enorm, von 18.000 (1850) Einwohnern auf 85.000 (1900).

Die Grafik der Zu- und Wegzüge in der Stadt Mönchengladbach von 1867 bis 1896 macht deutlich, dass zwar die Zuzüge meistens überwiegen, aber die Wegzüge fast parallel dazu verlaufen, um zum Ende des 19. Jahrhunderts hin sich fast auszugleichen. Dennoch nehmen die absoluten Zahlen im Schnitt zu.

Pendler aus den damals umliegenden Ortschaften, unter anderem die Stadt Dahlen (heute Rheindahlen), stellten sicherlich die allergrößte Gruppe der Arbeiterschaft in den zunehmend mechanisierten Textilbetrieben Gladbachs und Rheydts. In der Rheydter Chronik wird erwähnt, dass es für diese zahlreichen Pendler besondere Arbeiterzüge und eigene Wartehallen für Arbeiter gab. Erst im Verlauf der Jahre ziehen die ehemaligen Pendler vermehrt in die Stadt und geben das Pendeln auf.

Unbestritten, der gesamte Bereich des heutigen Mönchengladbach stand vor gewaltigen Herausforderungen, die sich mit der Herausbildung eines "Industrieproletariats" ständig steigerten. Neben der Unterbringung und Nahrungsversorgung, musste von kommunaler Seite für eine entsprechende Infrastruktur gesorgt werden, die es bis dahin für diese stetig anwachsende Bevölkerung nicht gab.

Typisch für die Gladbacher Textilindustrie waren die ungesetzlich langen Arbeitszeiten, der minimale Lohn, der hohe Anteil von Kinder- und Frauenarbeit und lange Zeit eine Gleichgültigkeit der Fabrikanten bezüglich der technischen Ausbildung der Arbeiter. Daraus folgten viele soziale Probleme. Junge Männer, wenn sie überhaupt den Weg nach Mönchengladbach fanden, zogen weiter in "hoffnungsvollere" Gegenden. Attraktiv war es in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts nicht gerade, in die Textilindustrie Mönchengladbachs zu gehen. Umso bemerkenswerter ist die dennoch hohe Zuwanderung. Ohne Entwicklung der Textilindustrie und ohne den Zuzug so vieler Menschen und Arbeiter, gäbe es die heutige Großstadt Mönchengladbach mit mehr als 270.000 Einwohnern wohl nicht.

Der Text ist ein Auszug aus dem Buchprojekt der Geschichtswerkstatt Mönchengladbach: Migration und Mönchengladbach - Menschen kommen, gehen und verändern die Stadt, das am 1. Juli 2018 im Klartext-Verlag erscheint: ISBN: 978-3-8375-1859-7

(RP)
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