100 Jahre Erster Weltkrieg Vom Lösen eines kniffligen Geschichts-Puzzles

Mönchengladbach · Karl Freudenstein in seiner Gelderner Wohnung. Er wird diesen Artikel, sobald er erschienen ist, für die Franzosen um David Murzyn übersetzen.Über das Schicksal dreier in Frankreich Gefallener aus Mönchengladbach, Krefeld und Moers war lange wenig bekannt. Franzosen und Deutsche haben das Rätsel nun in Teilen gelöst. Die Geschichte eines Aquarells, eines fast vergessenen Ardennen-Kapellchens und zerbrochener Grabsteine.

 Karl Freudenstein in seiner Gelderner Wohnung. Er wird diesen Artikel, sobald er erschienen ist, für die Franzosen um David Murzyn übersetzen.

Karl Freudenstein in seiner Gelderner Wohnung. Er wird diesen Artikel, sobald er erschienen ist, für die Franzosen um David Murzyn übersetzen.

Foto: Thomas Binn

Von Dornengestrüpp überwuchert, von den Dorfbewohnern vergessen, als Deponie für Abfälle missbraucht, von Vandalen beschädigt: Mit "desolat" ließ sich der Zustand einer kleinen Kapelle im französischen Ardennen-Dörfchen Falaise noch recht wohlwollend beschreiben. Bis sich der damals 15-jährige David Murzyn ab 1982 daran machte, zunächst die Geschichte des kleinen Denkmals in seinem Dorf zu rekonstruieren — und später, mit Hilfe vieler Franzosen und Deutscher, das Denkmal zu restaurieren.

Und diesen Bemühungen ist es zu verdanken, dass das Schicksal dreier deutscher Soldaten, die im Ersten Weltkrieg fielen, nun möglicherweise erstmals bekannt wird. Es handelt sich um den Mönchengladbacher Hubert Schmitz, den Moerser Bernhard Scherpenberg und den Krefelder Adolf Keutmann.

 Das deutsche Kapellchen von Falaise - während der Erbauung ab Mitte 1917 und nach der erfolgreichen Restaurierung.

Das deutsche Kapellchen von Falaise - während der Erbauung ab Mitte 1917 und nach der erfolgreichen Restaurierung.

Foto: David Murzyn

Auf deutscher Seite war Karl Freudenstein maßgeblich mit daran beteiligt, dass die Geschichte der drei Soldaten nun aufgearbeitet werden kann. Der in Geldern lebende 85-jährige Hobbyhistoriker arbeitete früher als Konferenzdolmetscher im Verteidigungsministerium, ist einer von wenigen noch lebenden Zeugen der Unterzeichnung des Élysée-Vertrags. Über etliche Umwege, die ihrerseits einen Artikel füllen könnten — angefangen bei einem alten Aquarell, das bei einer Haushaltsauflösung gefunden wurde und eine Villa in der Kreisstadt Vouziers zeigt — kam er in Kontakt mit deren Bewohnern sowie des nahen Dörfchens Falaise. Daraus entspann sich, wie er sagt, "ein von Freundschaft geprägtes deutsch-französisches Projekt", das darin besteht, die Kapelle zu restaurieren, der Öffentlichkeit zugänglich zu machen und möglicherweise einige vergessene Schicksale aufzuklären.

 Das Kapellchen im Zustand des Verfalls im November 2008.

Das Kapellchen im Zustand des Verfalls im November 2008.

Foto: David Murzyn

Die Kapelle wurde ab Mitte 1917 vom deutschen Reserve-Infanterie-Regiment 236 erbaut. 150 Namen von Soldaten, die zwischen dem 5. Oktober 1916 und 28. März 1917 in den Kämpfen bei Ripont und um die Höhe 185 fielen und auf dem deutschen Soldatenfriedhof von Falaise beigesetzt wurden, sind auf den Steinplatten an der Rückwand eingraviert. Ein Drittel der Fläche wurde frei gelassen, wohl für weitere, spätere Gefallene; doch diese Platten blieben leer, obwohl noch bis Oktober 1918 weitere Beisetzungen auf dem Friedhof stattfanden. Und während das Dorf Falaise zum Ende des Kriegs durch Artilleriefeuer und MG-Beschuss in Schutt und Asche fiel, blieb die Kapelle nahezu unversehrt, auch in der Nachkriegszeit.

 Das deutsche Kapellchen von Falaise - während der Erbauung ab Mitte 1917 und nach der erfolgreichen Restaurierung.

Das deutsche Kapellchen von Falaise - während der Erbauung ab Mitte 1917 und nach der erfolgreichen Restaurierung.

Foto: David Murzyn

Um 1930 wurden die sterblichen Überreste der Beigesetzten auf den großen, heute vom Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge betreuten Soldatenfriedhof von Chestres umgebettet. 1843 Gefallene ruhen dort heute, doch die Dokumentation weist Lücken auf. Von Scherpenberg und Keutmann etwa fehlte lange fast jedes offizielle Zeugnis: Ihre Namen waren in die Rückwand der Kapelle graviert, doch über ihre Gräber und Grabsteine war nichts bekannt — bis ein Bauer beim Abriss einer Scheune im Dorf 2002 vier solcher Grabsteine fand. Gingen ihre Gebeine bei der Umbettung verloren? "Nein, sie wurden vermutlich damals von ihren Familien in die Heimat überführt", sagt Freudenstein. Und von Schmitz ist zwar die Grabnummer in Chestres bekannt — Grab 107 in Block 2 — doch eine Verbindung zu der Kapelle in Falaise, die darüber Zeugnis ablegt, wo er starb, konnte über viele Jahrzehnte nicht hergestellt werden. Bis sich, ursprünglich angestoßen von David Murzyn, besagte dörfliche Initiative zusammenfand, die all dies ändern sollte. Dabei waren etliche Probleme zu überwinden: etwa das, dass es keine deutsche Behörde gibt, die für deutsche Einzelgräber oder Kapellen in Frankreich zuständig ist.

Karl Freudenstein hat über die Geschichte der drei Verstorbenen vom Niederrhein geforscht. "Ihr Regiment war eines aus dem Rheinland, aber es wurde schnell mit Ersatz aus Preußen aufgefüllt", sagt er. Den nun zusammengeführten Puzzlesteinen der Geschichte ist zu entnehmen, dass Jäger Hubert Schmitz, geboren am 11. Mai 1895, am 8. März 1917 auf der Höhe 185 fiel. Der Musketier Bernhard Scherpenberg, geboren am 16. Mai 1896, starb am 4. Januar 1917. "Ich könnte mir vorstellen, dass er aus der Familie stammt, die dem Moerser Stadtteil Scherpenberg den Namen gab", sagt Freudenstein. "Und der Leutnant der Reserve Adolf Keutmann, geboren am 27. Mai 1892 und gefallen am 30. November 1916, dürfte aus der Familie des letzten Bürgermeisters von Krefeld-Bockum gestammt haben."

Am 20. Juli wird die restaurierte und in neuem Glanz erstrahlende Kapelle in Falaise eingeweiht. "Ohne einen Cent staatlicher Förderung, ausschließlich mittels Geld- und Sachspenden", sagt Freudenstein, der dabei speziell die Bürgerinitiative "Falaisrats d'Argonne" und die Bundeswehr-Reservisten aus Püttlingen (Saarland) hervorhebt. Immerhin werde das Mahnmal nun Gegenstand eines deutsch-französischen Schulprojekts. "Beim Kultusministerium des Saarlands läuft ein Antrag, dass sich zwei Schulen von beiden Seiten der Grenze im Rahmen einer Geschichtswerkstatt damit auseinandersetzen werden."

Und David Murzyn sagt: "Was für mich anfänglich nur ein Kindheitstraum war, ist dank einer großartigen Geschichte der Menschlichkeit voller Glücksfälle, Begegnungen und persönlichen Engagements bei der Verwirklichung eines am Anfang etwas verrückt zu scheinenden Vorhabens doch noch Realität geworden."

(RP)
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