Serie Denkanstoss Tage auf Lampedusa

Mönchengladbach · Letzte Woche war ich auf Lampedusa. In den Medien und Berichten ist die Insel weit vor Sizilien im Mittelmeer im Wesentlichen dadurch bekannt, dass dort die Flüchtlingsboote aus Nordafrika anlaufen. Die Inselbewohner sind Mitglieder der Waldenserkirche, andere katholisch. Sie stehen vor der Herausforderung, den gerade entstehenden Tourismus, der der kargen Insel einen kleinen Aufschwung bringt, zu bewältigen und dabei mit dem Elend, das sich am Strand und im Hafen abspielt, umzugehen.

Am 3. Oktober 2013 gab es hier die große Katastrophe - ein Boot mit 380 Flüchtlingen kenterte im Sturm. Keiner überlebte. Bis heute versammeln sich die Inselbewohner am Jahrestag dieses Unglücks in der kleinen Kirche auf der Insel und gedenken der Opfer. Lampedusa - das ist ein Synonym geworden. Ein Synonym für Flucht, Ausgeliefertsein, Gefahr, Tod - und Hoffnung.

In Lampedusa sind es kleine Leute, die Großes leisten. Einfach so. Weil ihr Herz ihnen das so sagt. Es sind diejenigen, die selbst nicht viel haben und die vielleicht sehr viel direkter spüren können, was es heißt, arm zu sein. Ihnen fällt das Teilen der wenigen Dinge, die sie haben, offensichtlich leichter als manchem von uns - jedenfalls habe ich dort keine Diskussion gehört zum Thema "Die nehmen uns alles weg und grapschen unsere Frauen an".

Mit großer Selbstverständlichkeit wird dort Ersthilfe geleistet. "Wir begrüßen die Menschen, die vom Boot kommen, mit einem Lächeln - und ohne Gummihandschuhe. Sie bekommen eine Tasse Tee und sollen wissen: Ich bin erstmal in Sicherheit", erzählt Giovanna. Sie hat einen Fischladen und verbringt ihre Freizeit am Strand, mit anderen, die helfen wollen. Wer die krachenden Wellen beobachtet, kann sich vorstellen, wie gefährlich es ist, mit einer Gummi-Nussschale voller Menschen dort anzulanden. Immer wieder kommt es vor, dass Menschen am Strand angeschwemmt werden, die die Überfahrt nicht überlebt haben, auch Kinder. Sie werden - wie auch anders - anonym bestattet, auf ihren Gräbern lediglich eine Ziffer. Giacomo ist der Friedhofswärter von Lampedusa. Mit seinen 85 Jahren hat er viel gesehen. Als die Amerikaner am Ende des Krieges seine Insel in Schutt und Asche bombten, war er ein Kind. Seine Mutter hat den Angriff nicht überlebt.

Er erzählt, dass er gar kein gutes Gefühl dabei hat, dass die Toten einfach durchnummeriert und begraben werden. "Damit nimmt man ihnen den letzten Rest ihrer Menschlichkeit", sagt der Alte kopfschüttelnd. Man merkt ihm an, dass er das furchtbar findet. Für seinen Friedhof hat er jetzt eine Lösung gefunden: Er legt einfache Kreuze und ein paar Plastikblumen auf die Gräber. Kinder bekommen eine kleine Mutter-Gottes Figur. Natürlich haben ihn die ganz Schlauen auch schon darauf angesprochen, ob das denn überhaupt gehe - schließlich seien doch viele der Toten mutmaßlich Muslime?! Damit hat Giacomo kein Problem: "Gott liebt uns, so oder so", sagt er - und es ist klar, dass es da keine Diskussion gibt. Die Kinder sollen die Heilige Mutter ruhig in ihrer Nähe fühlen. Sie wird das schon richtig machen.

Ich hatte viel zu bedenken nach dieser Reise: wie gut es uns geht und wie schwer wir uns oft tun, das zu entdecken. Wie wenig Herzenswärme und der Sinn für das Notwendige davon abhängen, welche Schulbildung man hat, oder was monatlich auf dem Konto ist. Wie schnell man nicht mehr wahrnimmt, dass jeder Mensch einzigartig ist. Natürlich, ich weiß. So einfach ist es oft nicht. Und dennoch: "Wir bringen den Menschen ein Lächeln. Und sie lächeln zurück, und das nach allem, was sie hinter sich haben" , sagt Giovanna, die Fischverkäuferin.

DIE AUTORIN IST LEITERIN DER EVANGELISCHEN PHILIPPUS-AKADEMIE.

(RP)
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