25 Jahre Fanprojekt Steffen Andritzke: Raute als Freiheitssymbol

Mönchengladbach · Der 51-Jährige verlor 1971 sein Herz an Borussia. Doch in der DDR durfte er seine Liebe nicht leben. Er hat ein Buch darüber geschrieben.

 Buchautor Steffen Andritzke heute und als jugendlicher Gladbach-Fan in Weimar. Damals durfte er seine Liebe zu Borussia nicht leben. Die Raute wurde für ihn zum Symbol der Freiheit.

Buchautor Steffen Andritzke heute und als jugendlicher Gladbach-Fan in Weimar. Damals durfte er seine Liebe zu Borussia nicht leben. Die Raute wurde für ihn zum Symbol der Freiheit.

Foto: Miroslav Menschenkind, kn

Steffen Andritzke war neun, als sein Vater fragte, ob er mal in ein Fußballstadion gehen wolle. Natürlich wollte er. "Ich will zum Bökelberg", sagte Andritzke junior. Er sah den entsetzten Blick des Vaters. "Das geht nicht", sagte der. "Natürlich geht das", sagte der Junge. Er hatte im Fernsehen gesehen, dass es Zuschauer gab bei Borussias Spielen. "Nein", sagte der Vater. "Das ist eine Mauer dazwischen."

Es war 1971. Deutschland war ein geteiltes Land und die Andritzkes lebten in Weimar. Also "drüben", in der DDR. Der Dialog mit dem Vater ist eine der vielen Szenen, die Steffen Andritzke nie vergessen hat, wenn er den Film seines Lebens als Fußball-Fan vor dem geistigen Auge ablaufen lässt. Es war eine der Situationen, in denen er spürte, dass etwas nicht stimmte in dem Land, in dem er lebte. "Ich habe die Grenzen des real existierenden Sozialismus kennengelernt. Schon als Kind", sagt Andritzke 42 Jahre später.

Er hatte Borussia im West-Fernsehen spielen sehen und sich in die Fohlen-Elf verliebt. Er malte auf sein Federmäppchen eine aufgehende Sonne und schrieb "Borussia Mönchengladbach" darüber. "Da ging das Theater los", erinnert sich Andritzke. Seine Zeichnung hatte verraten, dass er das Fernsehen des Klassenfeindes geschaut hatte, die Lehrer verhörten ihn. "Es gibt auch Vereine im Osten", sagten sie. Der Junge verstand das nicht.

Er suchte sich auch einen Lieblingsverein in der DDR aus, Carl-Zeiss Jena. Doch sein Herz hing an Borussia. Seine Liebe zu dem Klub ganz im Westen wurde ihm zum Verhängnis. Immer wieder gab es Repressalien des Regimes, wenn er sich bekannte. Andritzke hat nichts davon vergessen. Und hat seine Geschichte aufgeschrieben. "Kulturstadt Banause. Rückblick eines Weimarer Jungen" heißt das Buch.

Der erste Teil ist die Lebensgeschichte eines Fußball-Fans aus der DDR, für den die Raute jenseits der Mauer zum Symbol für die Freiheit wurde. "Wenn ich zum ersten Mal auf dem Bökelberg bin, bin ich frei", sagte sich Andritzke. Der zweite Teil des 427 Seiten starken Buchs spielt nach dem Mauerfall. Andritzke wurde Hooligan, verlor sich viel zu oft im Drogen- und Alkoholrausch, machte "einigen Scheiss". Auch darüber schreibt er schonungslos. Er hat die Zitate viele kluger Menschen eingebaut in seine Geschichte, seine eigene Sprache ist authentisch. "Ich hatte ein bewegtes Leben", sagt Andritzke. Heute ist er "clean", lebt in der Nähe von Mönchengladbach und ist im Fanprojekt aktiv.

Zurück in die DDR. Andritzke gehörte zum Gladbach-Fanklub Dresden Weimar. Es war der erste Borussia-Fanclub in Ostdeutschland. 1981 war er natürlich in Magdeburg, als Borussia dort spielte. Die Stasi versuchte, jeden Kontakt der Ost-Fans zu den West-Fußballern zu verhindern. Andritzke rettete sich zu Borussias Manager Helmut Grashoff, um den Stasileuten zu entwischen. All diese Episoden führten früh zu "meiner geistigen Republik-Flucht". 1984 stellte er einen Ausreiseantrag. Die Stasi schikanierte ihn.

"Ich war ständigem Psychoterror ausgesetzt", sagt Andritzke. Als Theo Weiß, Borussias erster Fanbeauftragter, Mitte der 80er Jahre Borussias Ost-Fans besuchte und auf dem Rückweg Andritzke mit nach Weimar nahm, wurde dieser verhaftet. "Es war brutal. Theo fuhr zurück nach Westen, ich wurde eingesperrt und verhört", sagt Andritzke. 1989 fiel die Mauer. Am 24. Februar 1990 stand Steffen Andritzke zum ersten Mal auf dem Bökelberg. "Der Tag war endlich gekommen", schreibt er und zitiert Sigmund Freud: "Glück ist die Erfüllung von Kinderwünschen." Er sah die Tore von Igor Belanow (2), Christian Hochstätter und Hansjörg Criens beim 4:0 gegen Bremen. Und spürte, wonach er sich gesehnt hatte: "Freiheit."

(RP)
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