Höhenflug des RSV im Jahr 1990 Als der Rheydter SV Oliver Kahn besiegte

Fussball · Aufstieg in die 2. Bundesliga, Einzug in den DFB-Pokal, Gewinn der Deutschen Amateurmeisterschaft: Im Sommer 1990 schien für den Rheydter SV vieles möglich. Geklappt hat am Ende nichts davon. Erinnerungen an eine Zeit, als der RSV eine Größe im Westdeutschen Fußball war.

  Im Halbfinale der Amateurmeisterschaft traf der RSV auf die Reserve des Karlsruher SC – und auf Olvier Kahn.

Im Halbfinale der Amateurmeisterschaft traf der RSV auf die Reserve des Karlsruher SC – und auf Olvier Kahn.

Foto: Screenshot Rheinische Post

Dieter Hamm sucht hilflos nach den richtigen Worten. Er beugt sich weit über den Küchentisch, in seinem Gesicht arbeitet es. Es geht um ein Gefühl, eine Stimmung, eine prägende Zeit. Wie soll er das bloß treffend beschreiben? Vor ihm liegen alte Zeitungsausschnitte, Schriftstücke und etliche Schwarz-Weiß-Fotos. Auch ein Bierglas mit dem Aufdruck „Aufstieg in die Verbandsliga 85/86“ hat Hamm, 73, dazugestellt. Es gab eine Zeit, da war er quasi alles beim Rheydter SV – Trainer der zweiten Mannschaft, dazu ab 1986 Pächter und Wirt im Klubhaus, Jugendobmann, Koch, Ordnungsdienst. Er war derjenige, der morgens um sechs Uhr die letzten Leute mit RSV-Schal aus der Kneipe schob und derjenige, der ab acht Uhr für die Jugendteams die Anlage wieder aufschloss. Und er war selbst Fan. Dann fällt ihm doch ein Vergleich für das Lebensgefühl zu jener Zeit ein: „Das war, als wenn man immer Trabbi fährt, und dann für eine Woche Porsche fahren darf. Ich weiß nicht, wie ich das anders beschreiben soll.“ Am Steuer dieses Porsches saß damals Peter Schleuter. Und dieser Porsche war nie besser in Schuss als im Frühsommer 1990.

Man kann aus zwei Perspektiven auf die damalige Zeit zurückschauen: Sportlich bleibt der Beigeschmack der unerfüllten Möglichkeiten. Aufstieg in die 2. Bundesliga, der Einzug in den DFB-Pokal, letztendlich noch der Gewinn der Deutschen Amateurmeisterschaft – innerhalb von zwei Monaten war die Mannschaft von Trainer Peter Schleuter mehrfach nahe dran, etwas Großes zu erreichen. Am Ende war sie dreimal der Geschlagene. Für viele der Beteiligten war es andererseits der Höhepunkt ihrer Karrieren. Überhaupt um diese Erfolge gespielt haben zu dürfen, bei dieser großen Zeit dabei gewesen zu sein, das scheint rückblickend zu überwiegen.

Jörg Pufahl wohnte damals in Erkelenz. Am 22. April 1990, einem Sonntag, kam er allerdings nur stockend zum Jahnstadion. „Ich habe schon ab der Abfahrt Rheydt gedacht: Was ist denn hier los? Wo wollen die alle hin?“ Erst kurz vor dem Stadion dämmerte es dem Mittelfeldspieler: die kommen alle zum Spiel. Es war der fünftletzte Spieltag der Oberliga-Saison, zu Gast war der Wuppertaler SV, der punktgleich mit dem Rheydter SV an der Tabellenspitze lag. 40 Freiwillige waren an diesem Spieltag am Jahnstadion zusätzlich im Einsatz, statt einem waren fünf Kassenhäuschen geöffnet. Auch der WDR war vor Ort. Die Fans aus Wuppertal begleitete die Polizei vom Bahnhof über die Theodor-Heuss-Straße zum Stadion. Ein „Großkampftag“ nannte WDR-Kommentator Jürgen Bergener das Spiel. Zwischen 13.000 und 18.000 Zuschauer sollen dabei gewesen sein, da schwanken die Quellen. Dieter Hamm bekam vom größten Spiel der jüngeren Vereinsgeschichte allerdings nichts mit. Statt Fußballer sah er nur Zapfhähne. „Ich war am Limit, ich dachte, die Welt geht unter. Aber es war schon toll“, sagt Hamm.

 Peter Schleuter war zunächst von 1985 bis 1992 Trainer beim Rheydter SV. 1996 kehrte bis 2001 zurück auf die Trainerbank.

Peter Schleuter war zunächst von 1985 bis 1992 Trainer beim Rheydter SV. 1996 kehrte bis 2001 zurück auf die Trainerbank.

Foto: Dieter Wiechmann

Der Rheydter SV war zuvor zwölf Spiele in Serie ungeschlagen geblieben, hatte einen Lauf. Im Prinzip hielt dieser Lauf aber schon seit 1985 an, als Schleuter das Traineramt in der Landesliga übernahm und den Verein innerhalb von zwei Jahren mit den Aufstiegen in die Verbands- und Oberliga in unerwartete Höhen führte. Nun tauchte mit der 2. Bundesliga ein neuer Gipfel in Sichtweite auf. Und wo Erfolg ist, da wollen die Leute teilhaben. In der Verbandsliga kamen einige Hunderte, in der Oberliga kontinuierlich 5000 und mehr Zuschauer. „Es war damals tatsächlich so, dass wir im Stadtgespräch auf einem Level mit der Borussia waren“, sagt Schleuter. Zumal die Borussia zwar Bundesliga spielte, jedoch keine Strahlkraft mehr wie in den 1970er-Jahren abgab. Im Frühsommer 1990 schien gar das Szenario real, das künftig beide Mannschaften in einer Liga spielen, der 2. Bundesliga: die Borussia als Absteiger, der RSV als Aufsteiger.

Schleuter gehörte mit Mitte 30 damals zu den jüngsten Trainern der Liga, er war nur geringfügig älter als viele seiner Spieler. Als Respektsperson galt er laut Klubwirt Hamm trotzdem. In seinem Klubheim standen Spielautomaten, ein Treffpunkt für die Spieler vor jedem Training. „Und das waren keine 2,50 DM, die die da eingeworfen haben. Peter gefiel das nicht. Er sagte irgendwann: Das geht nicht mehr“, sagt Hamm. Das Thema sei danach erledigt gewesen. Nicht zimperlich ging es auch in der Vorbereitung zu. „Peter hatte ein Faible für Fitness. Egal ob im Sommer oder Winter, es war immer hart“, sagt Pufahl. Viermal 400 Meter, viermal 100 Meter und einmal 3000 Meter – an einem Tag. So sah laut Pufahl zumeist der erste Fitnesstest im Grenzlandstadion aus. „In der Zeitentabelle lag ich zwischen dem ersten und dritten Torwart“, sagt er lachend.

 Das Herz der Beines hing immer am "Spö", hier Horst in der Mitte mit Trainer Peter Schleuter im Rücken und Michael Zumbroich (rechts).

Das Herz der Beines hing immer am "Spö", hier Horst in der Mitte mit Trainer Peter Schleuter im Rücken und Michael Zumbroich (rechts).

Foto: Wiechmann, Dieter (dwi)

Pufahl war 1982 zum RSV gekommen und bildete später mit Spielern wie Herbert Scheulen, Frank Hammerschlag, Markus Günther, Ralf Addo, Frank Busch, Jörg Jung, Wolfram Vieten, Michael Zumbroich, Georg Müffler, Holger Buschmann oder Oliver Stapel über viele Jahre das Gerüst der Mannschaft. Nach jedem Spiel war es üblich, im Klubheim gemeinsam zu essen – und nach Siegen auch gerne mal länger zu feiern. „Einige sind dann am Montag aus dem Klubheim direkt zur Arbeit. Wir waren schon ein eingeschworener Haufen, keine Durchgangsstation für die Spieler“, sagt Pufahl.

Glaubt man der damaligen Spielzusammenfassung des WDR, dann war der RSV im Spitzenspiel gegen Wuppertal die bessere Mannschaft. „Im Nachhinein muss man aber fast froh sein, dass kein Tor fiel“, sagt Schleuter heute, „es gab damals noch keine Sicherheitszäune. Und die Fans von Wuppertal waren ein anderes Kaliber. Wäre ein Treffer für uns gefallen, hätte das böse enden können.“ So blieb das Spitzenspiel torlos. Und der Trainer war damals überzeugt, das einfachere Restprogramm zu haben. Vier Tage später, am 26. April, büßte der RSV jedoch seine Unbesiegbarkeit mit einem 0:1 gegen Remscheid ein. Es war das entscheidende Spiel um den Einzug in den DFB-Pokal und der Beginn einer Serie von Rückschlägen zur Unzeit. Drei Tage später ging das nächste Ligaspiel gegen Bocholt mit 0:3 verloren. „Die Niederlage gegen Bocholt war der Knackpunkt. Danach hatte jeder die Ahnung: Das war’s“, sagt Pufahl. Am nächsten Spieltag gab es eine 2:7-Pleite gegen Abstiegskandidat Alemannia Aachen II. Schleuter spürte: Die Luft war raus. Die 2. Bundesliga verschwand aus den Köpfen. Am Ende zog der Wuppertaler SV mit drei Punkten vor dem RSV in die Aufstiegsrunde ein.

Was wäre gewesen, wenn der Aufstieg geklappt hätte? Schleuter lässt der Gedanke bis heute nicht ganz los. „Vielleicht wäre es eine Nummer zu groß gewesen. Ich hätte es aber gerne versucht.“ Der Porsche namens „RSV“ fuhr damals, bei genauerer Betrachtung, aber auch im roten Drehzahlbereich, das gibt auch der Trainer zu. Die vorherigen Aufstiege hatten den Verein organisatorisch bereits vor Herausforderungen gestellt. In der 2. Bundesliga mussten die Spieler, die zuvor allesamt Amateure waren, zu Profis werden. Der Aufstieg wäre entsprechend teuer geworden. Er hätte aber auch Chancen gebracht, TV-Einnahmen, attraktive Gegner – dazu den Reiz, sich im Profifußball zu messen. Pufahl hätte zumindest seinen eigentlichen Beruf als KFZ-Mechaniker für die 2. Bundesliga geschmissen. Er gibt aber auch zu: Für viele Spieler wäre der Schritt sportlich zu groß gewesen.

Die damalige Spielzeit war für den Rheydter SV indes noch nicht vorbei. Der Deutsche Fußball-Bund ließ die Vizemeister der acht Oberligen zu jener Zeit noch den Deutschen Amateurmeister ausspielen. Der Wettbewerb wurde erst 1998 eingestellt. Für Schleuter war die Teilnahme zunächst „ein Trostpflaster“. Immerhin spielten nur die „Zweiten“, also die ersten Verlierer aus den Oberligen, mit. In der ersten Runde sei die Begeisterung entsprechend noch gering gewesen, nun noch weiterspielen zu müssen. „Mit jeder Runde wurde der Wettbewerb allerdings mehr angenommen.“ In der ersten Runde setzte sich der RSV bereits als Außenseiter überraschend nach Hin- und Rückspiel mit 3:2 gegen Bad Homburg durch. In der zweiten Runde, dem Halbfinale, kam es zum Duell mit der Reserve des Karlsruher SC.

Im Tor bei der KSC-Reserve stand 1990 ein gewisser Oliver Kahn, der später nicht nur wegen Kung-Fu-Tritten und Nackengriffen bei Gegnern auffiel, sondern auch als Klubikone bei Bayern München und dreifacher Welttorhüter Karriere machte. 1990 kannte Kahn allerdings noch niemand außerhalb von Karlsruhe. Bei Mehmet Scholl war das anders. Auch er machte später Karriere bei Bayern München – und hatte damals bereits einen Vertrag bei den KSC-Profis in der Tasche. Er traf in der 2. Minute in Rheydt zum 1:0 für den KSC, in der 8. Minute gelang Abwehrspieler Wolfram Vieten der Ausgleich – per Flugkopfball. Mehr Tore fielen nicht. Das Rückspiel fand am 2. Juni auf einem Nebenplatz am Wildparkstadion statt. Scholl spielte dieses Mal nicht, Kahn schon. „Mit Rheydt konnten die nichts anfangen, die waren sich sicher, ins Finale zu kommen“, sagt Schleuter. Das 1:0 für den RSV fiel per Eigentor, das 2:0 durch Ralf Addo in der 71. Minute. Karlsruhe dominierte, Rheydt verteidigte – und gewann.

 Mit zahlreichen Bussen fuhren die Fans im Juni 1990 zum Endspiel um die Deutsche Amateurmeisterschaft nach Salmrohr.

Mit zahlreichen Bussen fuhren die Fans im Juni 1990 zum Endspiel um die Deutsche Amateurmeisterschaft nach Salmrohr.

Foto: Screenshot Rheinische Post

Acht Tage später, am 10. Juni, fand das Endspiel in Salmrohr statt, gegen den FSV Salmrohr, der als Gastgeber bestimmt wurde. Warum, das weiß Schleuter heute nicht mehr. Nur, dass es nicht zum Vorteil für den RSV war. „In Salmrohr waren dann 2500 Zuschauer dabei, bei uns wären es 10.000 gewesen.“ Am Ende verlor der RSV mit 0:2. Sein Team erwischte nicht den besten Tag, sagt Schleuter rückblickend. „Nach einem Finale ist man immer enttäuscht. Aber man merkt ja, dass das bis heute nicht vergessen ist, daher war es schon etwas Besonderes für den Verein.“ Dafür hatten an diesem Juni-Nachmittag auch die mitgereisten „Spö“-Fans, die rund ein Drittel der Zuschauer in Salmrohr ausmachten, ein gutes Gespür. „Vize-Meister, Vize-Meister RSV“, johlten die Fans in einer Lautstärke, sodass – so ist es überliefert – die Worte der DFB-Delegierten bei der Siegerehrung untergingen.

 Der größte Erfolg in Peter Schleuters Karriere: deutscher Amateurvizemeister 1990. Der Trainer steht fast im Hintergrund, als Drittter von links zwischen Oberstadtdirektor Helmut Freuen und Oberbürgermeister Heinz Feldhege.

Der größte Erfolg in Peter Schleuters Karriere: deutscher Amateurvizemeister 1990. Der Trainer steht fast im Hintergrund, als Drittter von links zwischen Oberstadtdirektor Helmut Freuen und Oberbürgermeister Heinz Feldhege.

Foto: Werner Tressat

Der Höhe- war zugleich aber auch der Endpunkt, Aufschub hätte womöglich nur der Aufstieg gegeben. Denn ein Teil der Mannschaft war nahe am Zenit, ein anderer stand nach guten Leistungen auf dem Einkaufszettel anderer Vereine – und sah beim RSV wohl eher die nun verpassten Chancen als die künftige Möglichkeiten. Das erschwerte ebenfalls externe Verstärkungen. „Die Entwicklung nach unten war anschließend logisch“, sagt Schleuter. Er selbst führte bereits im Frühjahr 1990 Gespräche mit Borussia, es ging um den Trainerjob der Reserve-Mannschaft in der Verbandsliga. Borussia sagte ihm schließlich ab. Schleuter erfüllte dann beim RSV seinen Vertrag bis Sommer 1992, Rheydt landete nur noch auf Platz elf in der Oberliga. Pufahl verließ bereits 1991 den Verein, Klubwirt Hamm hörte ein Jahr zuvor auf. Mit seinem Aufwand für den Verein war er „körperlich und psychisch“ an seine Grenzen gekommen. Auch das zeigt, wie groß der Verein zwischenzeitlich geworden war: Ein Wirt, der nicht mehr kann. Er kümmerte sich im Anschluss nur noch um die Alten Herren.

Der erfolgreiche Frühsommer des RSV liegt nun 32 Jahre zurück. In der zurückliegenden Saison stellte der Verein gar keine erste Mannschaft, da man sich vor Saisonstart aus der Bezirksliga zurückzog. Nun geht es in der A-Liga weiter. „Ich habe das mit blutenden Herzen verfolgt“, sagt Schleuter, „Rheydt hat nun ein tolles Stadion, mit tollen Trainingsmöglichkeiten. Hoffentlich ist die Entwicklung irgendwann gegenläufig.“ Bis dahin bleiben Pufahl, Hamm und Schleuter die Erinnerungen an die besseren Zeiten des Rheydter SV.

Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort