Serie Gladbacher Lesebuch (51) Der Kasperle erklärte den Straßenverkehr

Mönchengladbach · Der Vater des Autors gehörte zu den ersten Puppenspielern der Mönchengladbacher Polizei. Viele Kinder haben die Stücke gesehen.

 Hinter den Kulissen des Verkehrskasperletheaters. Von links Hans Josten, Hans Meskes, Josef van Eesbeck und Peter Büdts.

Hinter den Kulissen des Verkehrskasperletheaters. Von links Hans Josten, Hans Meskes, Josef van Eesbeck und Peter Büdts.

Foto: Sammlung Bernhard Büdts

Die 1950er Jahre gingen als die Dekade des Wirtschaftswunders in die Geschichte der Bundesrepublik Deutschland ein. Ludwig Erhard, der erste Wirtschaftsminister im Kabinett von Bundeskanzler Konrad Adenauer, legte mit der neuen Wirtschaftsordnung, der Sozialen Marktwirtschaft, den Grundstein dazu. Wohlstand für alle hatte sich die CDU-Regierung auf die Fahnen geschrieben und so stand es auch 1957 auf deren Wahlkampfplakaten. Und dieses Wahlversprechen hielten Ludwig Erhard und das Kabinett Konrad Adenauer ein. Von 1950 bis 1963 nahm die Industrieproduktion real um 185 Prozent zu und ab Mitte der 1950er Jahre stieg auch die private Kaufkraft bei stagnierenden Lebenshaltungskosten. Dadurch konnten sich immer mehr Bundesbürger immer mehr leisten. Schon 1955 lief der millionste VW-Käfer in Wolfsburg vom Band, der zum Symbol des Wirtschaftswunders wurde.

Der wirtschaftliche Aufschwung ging auch an Mönchengladbach nicht vorbei. Von 1950 bis 1961 stieg die Einwohnerzahl um 29.300 auf 152.200. Auch die Gladbacher konnten sich immer mehr leisten. Von 1951 bis 1960 wuchs die Zahl der in der Stadt zugelassenen Kraftfahrzeuge von 5819 auf 17.554, das waren 11.735 Autos mehr. Mit der Zunahme der motorisierten Verkehrsteilnehmer wuchs aber auch die Zahl der Verkehrsunfälle, besonders die, bei denen Kinder schuldhaft zu Schaden kamen, denn die Kraftfahrzeuge verdrängten sie mehr und mehr von der Straße, ihrem angestammten Spielplatz.

Ich erinnere mich sehr gut an die Zeit, in der die Straßen Teil unseres Spielreviers waren. Hier veranstalteten wir die tollsten Tretroller-Wettrennen von der Dünner Straße 27 zu Tillas Büdchen, dann rechts in die Asdonkstraße und durch die Venne-Jazz wieder zur Dünner Straße zurück. Auch Rollschuhlaufen und Fußballspielen gingen problemlos und zum Seilchenspringen und Hinkeln eignete sich die glatte Asphaltfahrbahndecke auch bestens.

Schon früh erkannten die Landeskultusminister Handlungsbedarf zur Förderung der Verkehrssicherheit von Kindern und reagierten Anfang der 1950er Jahre mit der Etablierung von Verkehrskindergärten und Verkehrsschulen. Den allgemeinbildenden Schulen verordneten sie 1956 die Einführung des Fachs Verkehrskunde. Das allerdings empfanden sowohl Lehrer als auch Schüler als lästig und langweilig. Was fehlte, war eine für die Kinder attraktive Methode zu Vermittlung der Lerninhalte. Die fand man dann im Verkehrskasperle, den 1956 Edgar Perseke, ein Aachener Pädagoge und Puppenspieler, und Will Hermanns, Leiter des Presseamtes der Stadt Aachen, entwickelten. Heinz Krause, ein Hamburger Polizist und Puppenspieler, wurde als erster Polizeibeamter im gesamten Bundesgebiet mit der Gründung der Hamburger Polizeipuppenbühne betraut. Deren erfolgreiche Auftritte in Kindergärten und Grundschulen ermutigten bald darauf immer mehr Polizeibehörden in Deutschland, es den Hamburger Kollegen gleichzutun.

 Diesen Kasperle spielte der Vater des Autors Bernhard Büdts.

Diesen Kasperle spielte der Vater des Autors Bernhard Büdts.

Foto: Sammlung Bernhard Büdts

So beschloss auch 1957 die Mönchengladbacher Verkehrspolizei die Gründung eines Verkehrskasperletheaters und mein Vater war als Puppenspieler der ersten Stunde mit dabei. Er spielte das Kasperle, was mich mit besonderem Stolz erfüllte. Als mein Vater mit seinen Kollegen in meiner Schule, der evangelischen Volksschule Engelbleck II, gastierte, durfte ich sogar im Polizeibus mit nach Hause fahren. Anfangs bestand das Puppenspielerteam aus den drei Polizeibeamten Hans Josten, Josef van Esbeck und meinem Vater. Später verstärkte noch Hans Meskes die Truppe.

Die Polizeibeamten meldeten sich alle freiwillig für ihre neue Aufgabe. Am Samstag, 6. April 1957, gaben sie ihre erste Vorstellung im Filmsaal der Polizeikaserne. An diesem Tag fragte das Kasperle zum ersten mal sein Publikum: „Seid ihr auch alle da?“ und ich bin sicher, dass alle seine Frage mit einem lauten, langgezogenen „Jaaaaa“ beantworteten. Jede Vorstellung begann immer mit dem gleichen Ritual: Das Kasperle trat vor den noch geschlossenen Bühnenvorhang, begrüßte die Kinder und unter mehrmaligem „Hau-ruck“-Rufen schob er den Vorhang zur Seite, natürlich lauthals und begeistert von den kleinen Zuschauern unterstützt.

Die Vorstellungen des Verkehrskasperletheaters waren ein echter Höhepunkt meiner Schulzeit in der Volksschule, die ja heute Grundschule heißt. Ich bin mir sicher, dass viele Leser sich auch noch an manche Szene erinnern. So wollte beispielsweise ein Verkehrsunterteufel zum -oberteufel befördert werden, aber dazu musste der Beelzebub das Kasperle verleiten, die Straße zu überqueren, ohne nach links und rechts zu schauen. Die Verführungsversuche des Unterteufels quittierten wir kleinen Zuschauer dann mit lauthals geschrienen Warnungen und flammender Empörung. Natürlich ließ sich das Kasperle nicht beirren, sah erst nach links, dann nach rechts und überquerte danach die Straße. Aber nicht nur das richtige Verhalten im Straßenverkehr lernten wir Kinder so auf spielerische Weise, sondern wir erfuhren auch, dass wir nicht mit fremden Leuten weggehen, im Wald nicht mit Feuer spielen, eine Baustelle nicht als Spielplatz benutzen und gefundene Munition nicht anfassen durften.

Neben den beiden ewigen Gegenspielern Kasperle und Verkehrsteufel kamen 1962 insgesamt 13 Handpuppen zum Einsatz, wie beispielsweise der tölpelhafte aber gutmütige Seppel, der Onkel Schutzmann, die Oma, der Zauberer, die Fee, das Krokodil, der Hund, die Prinzessin oder auch der König. Zum Puppenensemble gehörte auch der Bimbo, der Neger, wie er damals benannt wurde, der aus einem unterentwickelten Land stammte – solch eine Figur wäre heutzutage natürlich undenkbar. Auch die Art und Weise, wie das Kasperle mit seinen Kontrahenten umsprang, entspricht mit Sicherheit nicht mehr der heutigen Didaktik. Zur Grundausstatung dieser Puppenfigur gehörten nämlich seine Pritsche und auch Omas Bratpfanne, mit denen er zur Freude aller Zuschauer seine Widersacher nach Strich und Faden vermöbelte. Im Februar 1962 gab die Kasperle-Bühne im Korschenbroicher Bali-Theater ihre 750. Vorstellung. Bis zu diesem Jubiläum sahen mehr als 70.000 Kinder den lustigen und lehrreichen Verkehrsunterricht, der sich bis dahin lediglich auf das Winterhalbjahr beschränkte. Wegen des großen Erfolgs sollte bald der Spielplan auf das ganze Jahr ausgedehnt werden. Nicht nur vor Kindern gab die Kasperle-Bühne ihre Vorstellungen, sondern wurde oft auch von Vereinen oder Verbänden engagiert, ganz besonders in der Vorweihnachtszeit. Einige Male spielten die Polizeibeamten auch im Hauptquartier vor englischen Offizieren, die sie jedesmal mit viel Beifall bedachten.

Die Ausstattung der vier Verkehrserzieher auf Rädern, die sie für jeden Auftritt aus ihrem Kleinbus aus- und danach wieder einladen mussten, beschränkte sich natürlich nicht nur auf die Bühne und die Handpuppen. Eine Schaltanlage, von der vielerlei Licht- und Beleuchtungseffekte abgerufen werden konnten, sowie Mikrofon mit Verstärkeranlage und ein Phonokoffer waren unabdingbar. Hinzu kamen noch viele Requisiten, wie beispielsweise Personen- und Lastkraftwagen en miniature, jede Menge Verkehrsschilder, Kasperles Zauberkiste bis hin zu Omas Bratpfanne.

Ein Lastwagen blies sogar „echte“ Abgase aus seinem Auspuff. Das war Zigarettenrauch, den ein Beamter von unten durch einen dünnen Schlauch in den Lkw-Auspuff pustete. Zwar stand die Hohnsteiner Bühne den Polizeibeamten weiterhin mit Rat und Tat zur Seite, aber viele der Besonderheiten erdachten und realisierten die vier Puppenspieler aus Mönchengladbach im Staatsdienst selbst.

 Die Bühne des Verkehrskasperletheaters 1977 beim 20-jährigen Jubiläum. Sie bestand aus Segeltuch, getragen von einem zerlegbaren Metallrohrgestell.

Die Bühne des Verkehrskasperletheaters 1977 beim 20-jährigen Jubiläum. Sie bestand aus Segeltuch, getragen von einem zerlegbaren Metallrohrgestell.

Foto: Sammlung Bernhard Büdts

Im November 1963 ging die 1000. Vorstellung über die Bühne. Da war ich 13 Jahre alt und gehörte schon lange nicht mehr zur Zielgruppe des Kasperles. In den bis dahin sechs Jahren lernten mehr als 90.000 Kinder durch die Arbeit der vier Polizeibeamten verkehrsgerechtes Verhalten und es erfüllt mich ein klein wenig mit Stolz, dass mein Vater einer von ihnen war.

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