Serie Gladbacher Lesebuch (39) Betreuung und Beat im Holter Jugendheim

Holt · Das Haus war Kinderhort, Raum für Untersuchungen durch Kinderärzte, bei der Jugend beliebt war es wegen der Tanztees mit Beatmusik.

 Die Shantanes, hier bei einem Auftritt 2012, zählten in den 1960er Jahren zu den bekannten Gruppen in Mönchengladbach.

Die Shantanes, hier bei einem Auftritt 2012, zählten in den 1960er Jahren zu den bekannten Gruppen in Mönchengladbach.

Foto: Jens Vogel/Vogel, Jens

Könnte das Holter Jugendheim erzählen, dann wären meine Zeilen unnötig. Anfangen möchte ich mit dem Kinderhort, der von Fräulein Anneliese Stöhr geleitet wurde. Mein, nein, unser Übergang – der von meiner Schwester, meinem Bruder und mir – vom Kindergarten im Kloster bei den Schwestern, besonders aber Schwester Elina, zum Kinderhort im Jugendheim, vollzog sich nahtlos. Der einzige Unterschied war, dass wir jetzt zur Schule gingen und nach dem Unterricht für einige Jahre den Kinderhort besuchten. Dieser befand sich in den unteren Räumen des Jugendheims, direkt neben der Wohnung von Herrn Wolf, dem damaligen Küster der Pfarre St. Michael, mit dem Gogomobil. Direkt daneben befanden sich die Räume des Kinderhorts. Ebenfalls war ein großer Spielplatz mit Schaukeln, Sandkasten und einem Klettergerüst vorhanden.

Fräulein Anneliese war eine strenge, aber sehr nette Leiterin, die mit ihren Helferinnen uns Kinder, die von der Schule kamen, den weiteren Tag betreute. Sie sorgte für das Mittagessen, das frisch gekocht wurde. Vor dem Essen hatten wir Kinder die Aufgabe, den Tisch zu decken. Dann wurde ein Tischgebet gesprochen, in dem wir uns zum Ende alle einen guten Appetit wünschten. Nach dem Essen war es selbstverständlich, dass alle Kinder das Geschirr in die Küche zum Spülen brachten. Da unsere kleinen Hände die heutige Spülmaschine ersetzten, dauerte es nach dem Essen eine gewisse Zeit, ehe alles von Hand gespült war. Das waren Aufgaben, die wir bereits im Kindergarten bei Schwester Elina gelernt hatten. So lernten wir schon sehr früh, entsprechend anzupacken. Keiner konnte sich drücken. Dafür sorgte der Wochenplan, der von Fräulein Anneliese für die Woche geschrieben wurde.

Nach dem Essen folgte die obligatorische kurze Bettruhe, bevor wir uns mit den Hausaufgaben beschäftigten. Das Gute daran war, dass immer jemand zur Seite stand, wenn man bei den Hausaufgaben Schwierigkeiten hatte. Nach den Hausaufgaben wurde gespielt, bevor meine Geschwister und ich uns gegen 17 Uhr auf den kurzen Heimweg im Schatten der Holter Kirche machten. Was habe ich oft die Jungen beneidet, die im Holter Park den Nachmittag verbringen konnten. Sei es beim Fußballspielen auf dem heiligen Rasen, der eigentlich nicht betreten werden durfte, dem Herumalbern mit den jungen Mädchen oder beim Fahrradfahren im Park, was natürlich ebenfalls nicht gestattet war. Ein sogenannter, oder sollte ich lieber sagen: selbsternannter, Sheriff, Insider kennen den Namen, meinte, die Kinder belehren und verscheuchen zu müssen. Ich betone „meinte“. Es sollte aber nicht mehr allzu lange dauern, bis auch mein Bruder und ich in diesen „Genuss“ kamen.

Meine Mutter hörte irgendwann mit dem Nähen auf, und so ging es nach der Schule endlich nach Hause. Sicherlich war die Zeit im Kinderhort nicht das Ideale. Es gab zur damaligen Zeit keine Alternative, da unsere Eltern Geld verdienen mussten und der Kinderhort die einzige Möglichkeit war, gut versorgt zu sein.

Einmal im Sommer ging es für uns Kinder zu Fuß zum Hardter Wald. Dort besaß eine gute Bekannte von Fräulein Anneliese ein Wochenendhaus. Der Weg war in der Sommerhitze nicht gerade angenehm. Trotz allem, einmal angekommen, konnten wir uns den ganzen Tag auf dem Gelände nach Herzenslust austoben. Wir Jungs kletterten auf Bäume, spielten Verstecken, ärgerten die Mädchen und konnten uns richtig austoben. Was wir natürlich vergaßen, war der Heimweg, der noch bevorstand. Der entpuppte sich als Tortur. Es nutzte nichts. Schließlich konnten wir nicht im freien Feld übernachten. Und so erreichten wir den Kinderhort mit Mühe und Not. Trotz aller Anstrengung war es immer ein toller Tag, und er brachte uns Abwechslung. Einige Jahre haben wir im Kinderhort verbracht und dadurch hatte auch Mutter die Möglichkeit, als Näherin bei der Firma Stranz an der Karstraße das Haushaltsgeld aufzubessern. Das war auch bitter nötig, da Vater bereits sehr früh, bedingt durch seine Krankheit, keiner geregelten Arbeit nachgehen konnte. Er verbrachte leider sehr viel Zeit als „Versuchskaninchen“ im Krankenhaus oder in der Uni-Klinik in Bonn auf dem Venusberg.

Im Jugendheim gelangte man über eine Treppe rechts in einen kleineren Raum, in dem sich eine Bücherei befand. Über viele Jahre konnte man sich dort für kleines Geld Bücher ausleihen. In den 1950er Jahren wurden in diesem Raum auch die Vorsorgeuntersuchungen für Säuglinge und Kleinkinder durchgeführt. Ein Arzt kam ins Jugendheim und untersuchte die Kinder. Erst einige Jahre später wurde das von einem Kinderarzt in der Praxis durchgeführt. Direkt neben diesem Raum, nur durch eine große Schiebetür getrennt, erreichte man das Kernstück des Jugendheims, den großen Saal. Dort wurden nicht nur in meiner Jugendzeit diverse Veranstaltungen durchgeführt. Zum Beispiel Hausfrauennachmittage, Karnevalsfeste, Weihnachtsfeiern, der Tanztee der Jugend, was es eben zum Feiern gab.

 Bei den Tanztee-Veranstaltungen wollten die Jugendlichen Beatmusik hören – am liebsten natürlich von den Beatles.

Bei den Tanztee-Veranstaltungen wollten die Jugendlichen Beatmusik hören – am liebsten natürlich von den Beatles.

Foto: dpa

Besonders die Beatnachmittage, früher noch „Tanztee“ genannt, mit diversen schon bekannten Livebands aus Mönchengladbach und Umgebung wie die Dukes, Towers, Wallflowers oder die Looks, um nur einige zu nennen, sind mir unvergessen. Eine Band, die ich nicht unerwähnt lassen darf, waren die Shantanes. Sie waren sehr bekannt und spielten ab und zu in der Aula des Gymnasiums an der Lüpertzender Straße. Ein Lied durfte nie fehlen. Es hieß „La Baggare“ und hunderte Jugendliche waren bei diesem Stück aus dem Häuschen.

So war es aber auch bei den berühmten Tanztee-Nachmittagen in den Jugendheimen, Haus Pauen in Hardt und Haus Hempel in Rheindahlen. Die Säle platzten bei jedem „Tanztee“ aus allen Nähten. Wir Jugendliche wollten unbedingt die Songs der Beatles und Rolling Stones hören und danach tanzen. Tanzen war ganz wichtig für mich. Man konnte sich austoben, aber auch, wenn ein langsames Stück gespielt wurde, ein wenig schmusen, sofern es das Mädchen zuließ.

Ich hatte fast immer Glück und kuschelte mich Kopf an Kopf und eng tanzend an das Mädchen. Und dann versank ich für kurze Zeit in wunderbare Träume und holte mir dort das, was ich von zu Hause nicht kannte – Zärtlichkeit und Geborgenheit – und tauschte verlegen den einen oder anderen kurzen Kuss aus. Danach hieß es einmal durchatmen. Man schaute sich an und wusste sofort, ob es einen weiteren Tanz gab. So tanzte man noch einige Tänze zusammen, um dann das Mädchen wieder zurück zu seinem Platz zu begleiten.

Danach ging ich für einige Minuten an die frische Luft, tankte Kraft und schaute mich wieder nach einem netten Mädchen um. Sobald die Kapelle auch nur den ersten Ton spielte, ging das Gedränge auf der Tanzfläche los. Zuerst wurde ein Mädchen fixiert, bevor man es zum Tanzen aufforderte. Schließlich wollte man nur mit seiner Auserwählten tanzen. Der Konkurrenzkampf der Jungen war enorm. Auf dem Weg zu einem Mädchen passierte es öfter, dass bereits verschiedene Jungs es auf dasselbe Mädchen abgesehen hatten und man dadurch leider zu spät kam. Dann suchte man sich eben eine andere, der man aber nicht anmerken ließ, dass sie nicht die Nummer eins war. Dass man alleine als Junge tanzte, gab es erst viele Jahre später.

Natürlich gab es auch Damenwahl. Ich achtete genau darauf, wer sich auf den Weg zu mir machte. Meistens war es okay. Und wenn es meiner Auffassung auch nicht so passte, habe ich trotzdem mit dem Mädchen getanzt. Das gehörte sich so. Ich wollte und konnte ihr keinen Korb geben. Über die Luftverhältnisse und die Hitze im Jugendheim möchte ich nur so viel andeuten, dass ich eigentlich nach jedem Tanz ein neues, trockenes Hemd anziehen hätte müssen. Die Temperaturen waren enorm hoch. Aber das nahm nicht nur ich in Kauf.

Wir waren jung, voller Tatendrang und für die Mädchen legten wir uns voll ins Zeug. Und so spielte fast jeden Sonntagnachmittag in irgendeinem Jugendheim eine Live-Band. Dann hieß es „es darf getanzt werden“ und mein Bruder und ich machten uns auf den Weg zum entsprechenden Jugendheim. Wir durften nichts verpassen, schließlich warteten einige Mädchen auf uns. Nach dem Tanznachmittag im Jugendheim ging jeder für sich Händchen haltend mit seiner Auserwählten seinen eigenen Weg. Ich ging meistens nach dem Ende der Tanztee-Veranstaltung mit dem Mädchen, das ich kennengelernt hatte, spazieren. Wir suchten uns im Park eine Bank und setzten uns dort, um harmlose Streicheleinheiten auszutauschen. Damals war das noch möglich. So neigte sich nach vielen Stunden ein toller Nachmittag und Abend dem Ende zu. Man verabredete sich für den nächsten Sonntag und freute sich auf die Schmetterlinge im Bauch.

Ich freute mich die ganze Woche wieder auf den Tanztee, die legendären Beatveranstaltungen mit den Live-Bands in irgendeinem Jugendheim. Durch das viele Tanzen, das Schmusen, aber auch durch das Herzklopfen und die Schmetterlinge im Bauch, die eigentlich immer vorhanden waren, meldete sich nach Stunden mein Magen. Schließlich war das Tanzen zwar toll, aber die Kalorien, die ich dabei verlor, waren ebenfalls nicht von schlechten Eltern. Also hatte ich Heißhunger auf Fritten mit Majonäse. Ich gestaltete meinen Heimweg so, dass eine Frittenbude angepeilt werden konnte. Für eine Mark gab es eine Tüte Fritten und die natürlich mit Majonäse. Die durfte nie fehlen.

Apropos Majonäse: Mein Lieblingsgericht waren und sind auch noch heute Kartoffeln mit Nudeln, aber alles schön fettig in guter Butter und fettem Speck gebraten, dazu zwei Spiegeleier und immer ein Tütchen Majonäse. Dieses Tütchen wurde an der Seite aufgeschnitten, um den Inhalt auf dem Teller zu verteilen. Das alleine kann ein normal denkender Mensch nicht nachvollziehen. Bei mir ging es so weit, dass ich mir das Tütchen nahm, es im Mund hielt und vor dem Essen komplett aussaugte, um dann die in Fett schwimmenden Bratkartoffeln mit Nudeln und Spiegeleiern genüsslich zu verzehren. Ich bin ehrlich, es schmeckte immer vorzüglich. Das Wort Cholesterin gab es wohl schon damals, aber was es bedeutete, interessierte mich nicht. Heute esse ich auch noch meine Bratkartoffeln mit Nudeln, natürlich immer noch in Speck und guter Butter gebraten, aber die Majonäse hält sich in Grenzen.

Als wenn es nicht abgesprochen war, traf ich meinen Bruder sehr oft weit nach Mitternacht an unserer Haustüre. Wir schlossen sie ganz leise auf, dass unsere Eltern nicht wach wurden. Denn unsere Sperrstunde 23 Uhr hatten wir weit überschritten. Also war höchste Alarmstufe angesagt, um uns absolut ruhig zu verhalten. Meistens zogen wir unsere Schuhe aus. Dann lag noch eine Treppe aus Holz mit 20 Stufen vor uns. Auch diese meisterten wir ohne großen Krach, sodass wir es schafften, ohne meine Eltern zu wecken, in unser kleines Schlafgemach zu gelangen.

Jeden Sonntagnachmittag gab es in einem anderen Jugendheim diesen Tanztee. Zum Glück spielte sich alles in einem katholischen Jugendheim ab. Es hört sich unglaublich an, aber die Beat-Veranstaltung in einem evangelischen Jugendheim, das war für meinen Bruder und mich ein absolutes Tabu. Noch mit 16 Jahren untersagten es unsere Eltern, das evangelische Jugendheim in Rheydt an der Pestalozzistraße aufzusuchen. Wir könnten ja zum anderen Glauben bekehrt werden. Dass wir selbstverständlich trotz Verbots auch nach Rheydt ins Pestalozzi-Jugendheim zum Tanzen gingen, versteht sich von alleine.

Nun komme ich zum Jugendheim Holt zurück. Über dem großen Saal waren verschiedene Räume, wo entweder die Messdiener- oder die Pfadfinder-Stunden stattfanden. Zweimal in der Woche traf man sich. Dort musste auch ich, so wie alle anderen Messdiener, die gelernten lateinischen Texte auswendig vortragen. Nicht vergessen darf ich die Tischtennisplatten, auf denen wir interne Turniere, auch während der Messdiener-Stunden, durchführten. Übrigens eine beliebte Freizeitbeschäftigung, der ich gerne nachging. Tischtennis konnte ich sehr gut spielen. Ich erinnere mich an Wolfgang Beckers, der an der Bahnstraße wohnte und an dessen etwas größeren Küchentisch, auf dem wir unsere Holter Meisterschaften der Messdiener im Tischtennis austrugen. Frau Beckers freute sich, wenn wir wieder einmal zum Tischtennisspielen kamen. Dann gab es ein Butterbrot und ein Glas Limonade wurde gereicht. Natürlich trafen sich im Jugendheim auch die Erwachsenen, die einem Verein angehörten und in irgendeiner Form mit der Pfarre St. Michael verbunden waren. Ich bin sehr gerne ins Jugendheim gegangen. In unseren sogenannten „Flegeljahren“ haben wir uns auf den Eingangstreppen hingesetzt, die Mädchen „angemacht“ und mit ihnen herumgealbert.

Heute ist das Jugendheim in Holt immer noch Kult und hat in keinster Weise an Bedeutung verloren. Es ist nach wie vor ein Treffpunkt.

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