Serie Gladbacher Lesebuch (31) Nachhilfestunden eines trickreichen Lehrers

Stadtmitte · Der Autor erinnert sich, wie ein Pauker in den Nachkriegsjahren zu Lebensmittel und Dienstleistungen kam. Die Schüler profitierten.

 Das Klassenfoto entstand 1949. Die Steintreppe am Schuleingang befand sich an der Stelle, wo heute der Eingang zur Musikschule an der Lüpertzender Straße liegt.

Das Klassenfoto entstand 1949. Die Steintreppe am Schuleingang befand sich an der Stelle, wo heute der Eingang zur Musikschule an der Lüpertzender Straße liegt.

Foto: Wolfgang Hellfrisch

Die Zeit zwischen dem Ende des Zweiten Weltkriegs im Mai 1945 und der Währungsreform im Juni 1948 ging als die Hungerjahre nach dem Krieg in die Geschichtsbücher ein. Wir waren alle damals hungrig und das wenige Essbare bestand morgens meist aus etwas klumpigem Maisbrot, das schwer wie ein Stein im Magen lag, und mittags aus Steckrüben. Und das Tag für Tag. 1946 wurde ich in eine anfangs mehr als 50 Sextaner starke Klasse des Math. Nat. im Gebäude der heutigen Musikschule an der Lüpertzender Straße eingeschult. In der Festschrift zum 125-Jährigen der Schule heißt es: „31. August 1943: Die Schulgebäude werden bei einem Luftangriff zerstört. Oktober 1945: Wiedereröffnung der Schule mit 671 Schülern, von denen lediglich 81 ein voller Stundenplan von mehr als 25 Stunden pro Woche garantiert werden konnte. Probleme beim Wiederaufbau: Zerstörte Räumlichkeiten, kaum Mobiliar, geringe Anzahl an Lehrern und keine Lehrwerke.

Genau so fand ich die Schule vor. Morgens nahmen wir in der Reihenfolge unseres Eintreffens auf zu wenigen Bänken Platz, dann auf den breiten Fensterbänken und die Letzten auf dem Fußboden. Der einzige Komfort dabei war, dass man sich an der Rückwand anlehnen durfte. Wir schrieben, das Heft auf den Knien balancierend, mit Tinte auf Papier, das jedem Löschpapier zur Ehre gereicht hätte, denn Kugelschreiber gab es noch nicht und vernünftiges Papier ebenso wenig. Im ersten Winter ohne funktionierende Heizung wurden uns nur Hausaufgaben aufgegeben und von Tag zu Tag wechselnde Termine für unsere nächste Zusammenkunft bekannt gegeben. Wer nicht hinhörte oder krank wurde, verlor durchaus vorübergehend den Anschluss. Für diesen Unterricht erhielt meine Mutter, Kriegerwitwe mit einem bescheidenen Einkommen, Jahr für Jahr einen Schulgeldbescheid über 240 Mark.

Jeder versuchte, irgendwie zu überleben, zusätzlich etwas Essbares zu ergattern. Wer über ein freies Fleckchen Land verfügte, sei es der Vorgarten, der Seitenstreifen am Haus oder sonstige Kleinstflächen, baute etwas Verzehrbares an, betrieb Schwarzhandel, tauschte beim Bauern das Tafelsilber und andere Wertsachen aus Familienbesitz gegen Nahrungsmittel. Nun litten unsere Lehrer nicht weniger Hunger als wir Schüler. Ein wenig sympathischer Vertreter seiner Spezies ersann für sich eine zwar ungewöhnliche, aber recht erfolgreiche, wenn auch nicht ganz legale Überlebensstrategie. Er guckte sich Söhne wirtschaftlich besser gestellter Eltern aus und prüfte sie in ihren Mathe-Noten soweit herunter, bis er den nichts ahnenden Eltern eröffnen konnte, die Versetzung des Filius sei so gefährdet, dass nur noch Nachhilfe das Blatt wenden könne. Die Eltern, die keine Ahnung hatten, dass ihre Söhne so schlecht stehen sollten und nicht wussten, was sie jetzt tun sollten, nahmen dankbar sein großherziges Angebot an, wenn denn schon kein geeigneter Nachhilfelehrer verfügbar sei, also wirklich ausnahmsweise dem eigenen Schüler Nachhilfe zu erteilen.

Die dankenden Eltern revanchierten sich je nach Branche und Verbindungen des Vaters mit Magenbitter, Lebensmitteln, Zahnbehandlungen, Fliesen, Stoffen, aber auch mit handwerklichen, medizinischen und anderen Dienstleistungen. Die Nachhilfe bestand praktisch nur in der Preisgabe und Bearbeitung der Aufgaben der nächsten Mathe-Arbeit. Mehr blieb schließlich auch nicht zu tun, wo es sich ja in Wirklichkeit nicht um schlechte Schüler handelte. Der Nachhilfeunterricht meines Freundes Klaus, der sich durch die väterliche Zahnarztpraxis hinreichend für Nachhilfe qualifiziert hatte, fand regelmäßig im Schlafzimmer an der Frisierkommode statt, dem noch einzigen freien Raum in der Wohnung. Die Sitzgelegenheiten in den übrigen Räumen befanden sich zeitgleich fest in Händen anderer Nachhilfeschüler, wie Klaus stets in der Diele an den völlig überlasteten Garderobehaken ablesen konnte.

Als Sohn einer unvermögenden Kriegerwitwe, bei der aber auch rein gar nichts zu holen war, blieb mir zwar die Frisierkommode erspart, dennoch profitierte ich vom Insiderwissen der besser Betuchten, denn Klaus eilte stets gleich von der Nachhilfe mit den Lösungen der nächsten Mathearbeit zu mir. Zum Glück hatte der Lehrer angesichts seiner vielen Nachhilfeschüler deren genaue Sitzpositionen nicht im Kopf und gab Klaus daher immer beide Arbeiten mit, also auch meine als dessen Banknachbar, die ja, um das Abschreiben zu verhindern, eine andere war. Als kleine Draufgabe fügte er, da war dieser Gauner wirklich nicht kleinlich, noch die Aufgaben plus Lösungen der nächsten Klassenarbeiten in Biologie und Physik hinzu. Fächer, die er ebenfalls unterrichtete. Aber schließlich musste die Nachhilfe ja bei den Eltern Wirkung zeigen. Dank Klaus bekam ich auch diese Aufgaben zur Kenntnis.

Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort