Serie Gladbacher Lesebuch (31) Wegen des Kriegs dauerte das erste Schuljahr zwei Jahre

Hardterbroich · Mitten im Zweiten Weltkrieg wurde Peter Josef Dickers eingeschult. Wegen der schweren Zerstörungen war an Lernen schon bald nicht mehr zu denken.

Mein Einschulungsdatum in die „Deutsche Volksschule“ war ein Tag mitten im Zweiten Weltkrieg. Tag und Nacht musste sich mein Heimatort an der Eisenbahnstrecke zwischen Neuss und Mönchengladbach auf Tieffliegerangriffe von Jagdbombern einstellen. Unsere Familie lebte im Keller unseres Hauses an der „Josef-Goebbels-Straße“. Mein Vater war zwei Jahre zuvor in Russland gefallen. An alle Einzelheiten meines ersten Schultags kann ich mich nicht mehr erinnern. Eine süße Schultüte gab es nicht. Wo hätte man die besorgen sollen? Ich weiß noch, dass sich die I-Dötze, wie wir genannt wurden, auf dem Schulhof aufstellten, jeweils zu zweit – Jungen und Mädchen getrennt. Händchen haltend wurden wir ins Schulgebäude geführt. In einem großen Raum lagen paarweise Holzschuhe, „Klompen“ hießen sie, auf dem Fußboden. Jedes Dötzchen erhielt ein Paar davon.

Die Bevölkerung des Dorfes war fast ausnahmslos katholisch. Mutter erzählte, dass es nur eine einzige evangelische Familie gab. Die Schule war logischer Weise eine „Katholische Bekenntnisschule“. Kurz vor Beginn des Krieges wurde sie aufgrund staatlicher Anordnung in eine „Gemeinschaftsschule“ umgewandelt. Kruzifixe und andere religiöse Symbole verschwanden aus dem Schulgebäude. Meine Oma fand es unerträglich, dass ich in eine aus ihrer Sicht „heidnische Schule“ kam. Vielleicht war es daher gar nicht so unwillkommen, dass die Schule wegen der zunehmenden Gefahren des Luftkriegs kurz nach meiner Einschulung geschlossen wurde. Vorher waren wir noch eine Weile im Schutzraum des Schul-Kellers unterrichtet worden. In den folgenden Kriegsmonaten wurde das Schulgebäude mehrfach von Bomben getroffen. Granateinschläge gab es überall im Dorf. Brand- und Sprengbomben richteten Beschädigungen und Zerstörungen an. An Schule war nicht zu denken. Wie ich diese unfreiwilligen Kriegsferien empfunden habe, weiß ich nicht mehr. Ersatzunterricht gab es nicht. Die Schreibübungen auf der Schiefertafel, die meine Oma gelegentlich mit mir veranstaltete, waren Zeitvertreib und keine private Nachhilfe im Keller unseres Hauses.

Am 1.März 1945 rückten amerikanische Soldaten mit Panzerfahrzeugen in unser Dorf ein. Meine Mutter hisste am Fenster zur Straße hin ein weißes Handtuch. Das half nicht viel. „Raus“, sagten die mit Maschinengewehren bewaffneten US-Soldaten. Kleidung, Bettzeug und ein paar Küchengeräte konnten wir mitnehmen. Schulbücher besaß ich ja keine. Die „Josef-Goebbels-Straße“ wurde wieder in „Oststraße“ umbenannt. Bei Verwandten in einem anderen Ortsteil kamen wir unter. An Schule war weiterhin nicht zu denken. Im August wurde die Volksschule wieder geöffnet. In der Kirche gab es einen feierlichen Gottesdienst. Kinder und Lehrer nahmen daran teil. Danach ging es in einer Prozession zur nahe gelegenen Schule. Auch dort eine Feier. Die Schulräume wurden gesegnet, die Kreuze wieder aufgehangen. Die Kriegsferien waren zu Ende. Aus der Schule wurde wieder eine Katholische Bekenntnisschule. Das „Heidentum“ war beendet.

In meinem ersten „Zeugnis der Deutschen Volksschule“ vom 1. April 1946 für die erste Klasse steht der Vermerk: „Schulaufnahme 1.9.1944. Schuljahr 1945/46“. Zwei Jahre dauerte mein erstes Schuljahr. Ein langes Schuljahr, zeitlich gesehen. „Nicht für die Schule, sondern für das Leben lernen wir.“ Seneca, der Erzieher des römischen Kaisers Nero, schrieb das.

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