Serie Gladbacher Lesebuch (29) Der Sohn von „Bonnes Änni“ im Bahner Bösch

Bahner · Der Wald diente als großer Spielplatz. Die Kinder aus Dohr waren die "Feinde". Und dann war da noch ein merkwürdiger Mann.

 Dieter Ziechaus gehörte zu den "Jungens vom Bahner Bösch". Noch heute erinnert er sich gerne an seine Kindheit.

Dieter Ziechaus gehörte zu den "Jungens vom Bahner Bösch". Noch heute erinnert er sich gerne an seine Kindheit.

Foto: Dieter Ziechaus

Geboren wurde ich 1946 in Giesenkirchen, Bahner 19. Diese Adresse war auch bekannt unter der Gaststätte „Haus Bonne“. Sie wurde von meiner Mutter, auch „Bonnes Änni“ genannt, bis Aschermittwoch 1960 geführt. An die Honschaft Bahner-Blaffert grenzte ein Stück Wald, welches sich bis nach Dohr erstreckte. Aufgeteilt war der Wald in zwei Regionen. In den Bahner Busch (Bahner Bösch) und den Dohrer Busch (Döörer Bösch). Die Döörer waren die größten Feinde der „Jungens“ vom Bahner und Blaffert. Es wurden tatsächlich „Kriege“ geführt, und wie! Kriegsplatz war ein freies Feld östlich vom Bahner Bösch, wo sich heute das Gewerbegebiet Bahner befindet. Dort war eine Wiese. Sie erstreckte sich im Norden bis zu den ersten Häusern von Dohr. Das war unser Kampffeld. Pfeil und Bogen wurden gebastelt, Kiesel- und schwere Steine herangeschafft, fast jeder hatte eine Flitsch (Zwille). Munition waren Knicker oder kleine Steine. Alle Geräte wurden, ohne mit der Wimper zu zucken, schamlos ausgenutzt. Damit wurde auf Menschen geschossen oder geworfen. Die Abstände zwischen den streitenden Parteien waren relativ groß weit groß. Dieses Kampfspiel wurde fast jedes Jahr durchgeführt.

Dieser Wald war der „Bahner Bösch“. Das Zentrum vom Bösch war der „Boekelter Plään“, genannt nach den Bucheckern, die im Herbst herumlagen. Hier im Zentrum traf sich alles, was Rang und Namen hatte. Meistens waren es die großen Jungens, vor denen die Kleinen Respekt hatten. Es wurde gebolzt, sich verletzt, herumgeschrien, geschlagen, trainiert. Das geschah an guten Tagen bis es dunkel wurde. Manchmal wurde am Abend ein Feuer gemacht und die ersten Zigaretten mit getrocknetem Laub in Zeitungspapier eingepackt und geraucht. Schmeckten zwar nicht, aber der Magen gab alles wieder schnell zurück. Das war uns egal. Hauptsache wir hatten geraucht. Wir gehörten ab diesem Zeitpunkt zu den Großen. Da meine Eltern diesen Bericht leider nicht mehr lesen können, kann ich ja jetzt verraten, dass ich die Großen und Kleinen mit Zigaretten versorgt habe. Da es sich nach meiner Auffassung um Nächstenliebe handelte, hat der liebe Gott es mir bestimmt verziehen.

Auch wurden hier Pläne geschmiedet, was man aushecken könnte. Damit man unter sich blieb, wurden Bunker gebaut. So wurde bis zu drei Meter im Quadrat der Waldboden ausgehoben. Das war mit einer Menge Arbeit verbunden. Bedeckt wurden die Bunker mit starken, armdicken Stöcken aus Haselnuss längs und quer; auch Sträucher und Lehm fehlten natürlich nicht. Nur beim Regen war es nicht so schön. Es war zappenduster. Sehen konnten wir uns nur durch Kerzenlicht. Damit wir möglichst lange in unserem getarnten Bunker unentdeckt blieben, hoben wir auf einigen kleinen, einen Meter breiten Zugangswegen in Abständen von fünf bis sechs Metern Löcher mit einer Tiefe von bis zu 70 Zentimetern aus, und füllten sie, nachdem wir sie mit Buschwerk getarnt hatten, mit großen Kuhfladen von einem benachbarten Bauernhof. Die Wirkung war riesig und wir hatten eine gewisse Zeit unsere Ruhe vor „Feinden“, die uns unseren Bau nicht gönnten. In meiner Clique waren wir gerade zwischen acht und zehn Jahren alt.

 Der Autor ist der Sohn von Bonnes Änni, die im Bahner jeder kannte.

Der Autor ist der Sohn von Bonnes Änni, die im Bahner jeder kannte.

Foto: Dieter Ziechaus

Es gab noch jemanden im „Bahner Bösch“, der lebte in einem alten Fachwerkhaus alleine. Er hütete Ziegen, Gänse, Schweine und anderes Getier. Ein kleiner Graben umrahmte sein kleines Häuschen, und wehe wenn jemand diesen Graben überschritten hatte. Dem drohte Unheil mit einer Heugabel. Ich glaube noch heute, wenn der einen erwischt hätte, er hätte zugestochen. Aber weil wir als Kinder das Risiko herausforderten, sprangen wir immer wieder über den Graben, nur um zu sehen, wie sich der Mann aufregte und mit seiner Gabel hinter uns herlief. Er hatte keine Chance, uns zu erwischen. Wir waren schneller. Dieser Mann, von dem ich hier erzähle, war „Beckisch Neckarsch“. Woher er diesen Namen hatte und wie er in Wirklichkeit hieß, weiß ich nicht.

Damals gab es noch die Weberei Bresges, da wo sich heute der Bresges Park befindet. Diese Weberei gewährte den meisten Menschen in den umliegenden Honschaften nicht nur einen sicheren Arbeitsplatz, sondern auch ein sicheres Einkommen. Das war kurz nach dem Krieg. Damals gab es kaum Autos. Alle fuhren mit dem Fahrrad morgens nach Bresges hin und abends zurück. Da waren Massen von Fahrrädern in Zweier- oder Dreier-Reihen auf dem Fahrradweg unterwegs. Ich kann mich erinnern, dass es manchmal eine Viertelstunde dauerte, bis ich eine Möglichkeit hatte, den Fahrradweg zu überqueren. Nun, warum erzähle ich das? Die Gaststätte Haus Bonnen hatte eine große Eingangstür zum Lokal, die sich nach innen öffnete. Hier war genug Platz, um sich dahinter zu verstecken. Bevor die Fahrräder abends kamen, legten wir Heftzwecke, mit der Spitze nach oben, auf den Fahrradweg. Dann ging der Palaver los. Einige Fahrradfahrer merkten es sofort, andere erst ein paar Kilometer weiter und wieder andere erst am Tag darauf. Ihre Vorder- oder Hinterreifen funktionierten nicht mehr. So trugen wir unbewusst dazu bei, dass der alte Herr Krosch, mit seinem kleinen Fahrradgeschäft am Blaffert, immer etwas zu tun hatte. Ich glaube, heute wäre dieser Lausbubenstreich nicht mehr möglich. Manchmal hatten wir auch, an gleicher Stelle, ein leeres Portemonnaie, mit einem durchsichtigen Faden verbunden, auf den Fahrradweg gelegt, und wenn jemand versuchte es aufzuheben, dann zogen wir ganz heftig daran und hatten meistens mit den Betroffenen Spaß. Heute gibt es sowas nicht mehr.

Bei uns am Bahner und Blaffert gab es zu bestimmten Zeiten im Jahr ganz bestimmte Spiele oder Tätigkeiten, die sich immer wiederholten. So wurden im Frühjahr frische und hohle Hülsenfrüchte abgeschnitten. Ein Mundstück am Anfang oder Ende der Hülsenfrucht wurde fein säuberlich präpariert. Der Mund wurde mit roten Beeren gefüllt, und so mit dem eigenen Lungenvolumen derart weit „geschossen“, dass der Getroffene sich stark am Auge verletzten konnte. Was wurde noch gemacht? Es wurde geknickert. Wer kennt das noch? Im Grunde ein einfaches Spiel. Es wurde eine faustgroße Vertiefung in die Erde gebohrt. Die Spiellaufbahn sollte so gut wie möglich eben verlaufen. Es wurde im Abstand von fünf Metern eine waagerechte Linie gezogen. Hinter dieser Linie musste man sich aufstellen. Dann wurden den Spielern Nummern zugeteilt. Also warf der erste bis fünfte, der Reihe nach, seine Knicker so nahe wie möglich an das Loch. Derjenige, der am nächsten zum Loch lag, durfte als erster versuchen, den nächst gelegenen Knicker im Loch zu versenken. Das tat er solange mit den anderen Knickern, bis er neben das Loch traf. Dann war der nächste dran. Derjenige, der es schaffte, alle Knicker im Loch zu versenken, durfte diese für sich behalten.

 Als Kinder kämpften die Bahner Kinder gegen die aus Dohr.

Als Kinder kämpften die Bahner Kinder gegen die aus Dohr.

Foto: Dieter Ziechaus

Irgendwann fing jemand an, „Hülldopp“ zu spielen. Hierbei handelt es sich um einen rund zehn Zentimeter großen, schweren Kreisel aus Hartholz, der am Ende mit spiralförmig eingekerbten Rillen versehen ist. Eine lange Schnur, an einem Stock befestigt, wurde um die Rillen gewickelt und mit einem kräftigen Wurf in eine rotierende Bewegung versetzt. Gewonnen hatte der, dessen Hülldopp am längsten in Bewegung blieb. Das wurde verhindert, indem man mit dem Stock und der Schnur solange unten an die Spitze schlug, bis er die Drehbewegung von neuem Fahrt aufnahm. Heute sind die Spiele, wie viele andere, einfach in Vergessenheit geraten. Schade.

Wenn im Sommer die Getreidefelder abgemäht waren, wurden sie von uns umfunktioniert in Laufbahnen, um unsere Windvögel dort steigen zu lassen. Gekauft wurde in den Geschäften am Blaffert bei „Dyck“ oder an der Konstantinstraße bei „Boden“. Als Erstausstattung benötigte man das bunte Windvogel-Papier, eine spezielle Leinen-Kordel mit Holzrolle und die dünnen, schon fertig geschnittenen Holzleisten. Zunächst wurde aus den Holzleisten ein Kreuz geformt und im Schnittpunkt mit Kordel zusammengebunden. Nun wurde an allen vier Enden länglich ein kleiner Spalt eingeritzt, damit die eingespannte Kordel gut fest saß. Dieses Gerippe wurde auf das ausgebreitete Papier gelegt, großzügig ausgeschnitten und zwar so, dass man um die Seiten herum das Papier über die Kordel knicken konnte, um sie dann mit Klebstoff festzumachen. Uns diente hierzu auch eine gekochte Kartoffel. Wenn das Papier angetrocknet oder geklebt war, wurden in der Längsleiste oben und unten Löcher gebohrt. Hier hinein wurde ein Stück Kordel festgemacht und mittig der Anfang der Zugleine von der Rolle befestigt. Der Windvogel musste noch einen Schwanz bekommen. Hierfür musste eine Kordel am unteren Ende des Vogels befestigt werden. Grasbüschel wurden am Schwanz angebracht und fertig war der Windvogel.

Es wurde Rollschuh gelaufen. Die Straße am Bahner war mit Kopfsteinpflaster ausgestattet. Rollschuhfahren war unmöglich. Der Parkplatz am Haus Bonnen war geteert und am besten geeignet, sehr zum Unmut meiner Mutter. Der Lärm wurde verstärkt, wenn mit selbst gebastelten Hockeyschlägern aus Nussbaum und einer leeren Milchbüchse Rollschuhturniere ausführt wurden. Man muss wissen, dass diese Rollschuhe Eisenrollen hatten. Das war ein ohrenbetäubender Lärm. Das Gleiche galt für Schlittschuhe. Wer damals Besitzer von Schlittschuhen war, musste damit rechnen, dass seine Schuhsohlen sich lösten und neu besohlt werden mussten. Somit war auch die Tätigkeit des Schusters gewährleistet. Hatten die Eltern nicht das Geld für eine Reparatur, wurden einfach rote Gummiringe von Einmachgläsern genommen und diese drei oder viermal um die Schlittschuhe und normalen Schuhe gewickelt. Hielt übrigens nicht schlecht, aber nur so lange, bis auch diese wieder rissen.

Die Straße Blaffert war etwas abschüssig und eignete sich nicht nur zum Schlittschuhlaufen auf festgefrorenem Schnee, sondern auch zum Rutschen. Abends haben wir Wasser den „Berg“ herunter geschüttet, der nachts gefror, und wir somit am anderen Tag eine wunderschöne Rutschbahn hatten. Was wir uns von den Fahrradfahrern haben anhören müssen, möchte ich nicht erläutern, denn die mussten ja wieder am Morgen nach Bresges fahren. Aber nicht nur am Blaffert wurde Schlittschuh gelaufen, sondern auch auf dem Löschwasserteich der Firma Rumpus, der sich hinter dem Fabrikgelände befand.

Apropos Winter. Da war ja noch Sankt Martin. Das war für uns Kinder ein besonderer Tag oder Abend. Eine Fackel musste her. In der Schule wurden auch Fackeln gebastelt. Aber das war für die meisten nicht interessant. Bis zu diesem Tag hatte der Bauer nebenan am Haus Bonnen schon die Rüben eingefahren. Die dicksten wurden ausgesucht und mit einem Messer oder einem Esslöffel säuberlich ausgehöhlt und Augen, Mund und Nase hinein geritzt. Die Augenlider wurden mit Watte angeklebt. Als Nase wurde eine vorsichtig ausgehöhlte Möhre in die Öffnung gesteckt und Zähne wurden gebastelt. Nun wurde ein nicht mehr genutzter Besenstiel genommen, am obersten Ende Nägel eingeschlagen und auf die Spitze des Stockes eine Kerze befestigt. Einige legten sogar eine kleine elektrische Leitung zum Stielende mit einem Schalter. Als Licht wurden ein Fahrradlämpchen und eine dünne Batterie genommen. Sah einfach klasse aus. Die Rübe wurde vorsichtig durch die untere, bereits eingeschnittene, Öffnung geschoben bis sie auf den Nägeln lag. Fertig war die Fackel. Sie war so einfach zu bauen. Dann ging es los. Wir gingen stolz mit der Fackel zur Schule und stellten uns auf. Da waren sie wieder, die Großen. Sie durften mit den Feuerwehrleuten die Fackeln mit dem offenen Feuer an den Seiten des Martinszuges tragen. Und dann waren da noch die Kinder, die wahre Kunststücke als Fackeln hatten. Da waren Knusperhäuser mit beleuchteten Fenstern und Türen, auch Dächer mit Schnee aus Watte, auch der Kamin rauchte, einfach fantastisch. Es waren Kunstwerke. Heute sieht man sie leider nicht mehr. Nach dem Zug erhielten alle Schulkinder vom Sankt Martin einen Weckmann. Natürlich mit Pfeife.

Dann ging es wieder nach Hause, denn das Schönste kam erst. Eine Rotte von Kindern tat sich zusammen um „Singen zu gehen“. Wir bekamen Süßigkeiten, Obst und schon mal etwas zum Anziehen. Selbst gestrickte Socken oder warme Handschuhe waren im Angebot, wie auch manchmal einen Groschen oder fünf Pfennige. Auch ergab sich, dass die Leute sich unsere Lieder anhörten, sich bei uns bedankten, aber nichts gaben und die Tür wieder zuwarfen. Das hatte Konsequenzen. Wir sangen dann laut und aus voller Brust folgendes Lied in unserer Heimatsprache: „Dat Huus dat steht op eene Pen, do drin do wuant` ne Jitzhals drin: Jitzhals-Jitzhals-Jitzhals“ (Anm.: Geizhals).

 Auch besondere Feste im Jahr sind noch bestens in Erinnerung.

Auch besondere Feste im Jahr sind noch bestens in Erinnerung.

Foto: Dieter Ziechaus

Auch heute bin ich noch stolz darauf, am „Bahner“ aufgewachsen und Mitglied der Bahner und Blaffert Jungens und Mädchen gewesen zu sein. Es war eine verdammt schöne Zeit, an die ich mich gerne erinnere.

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