Getöteter Säugling Leo in Mönchengladbach Warum bringen Eltern ihre Kinder um?

Düsseldorf · Im Prozess um den Tod des kleinen Leo aus Mönchengladbach nennt die Anklageschrift erschütternde Details zur Tat. Was muss in Menschen vorgehen, die ihren Kindern so etwas antun? Wir haben bei einer Gerichtspsychiaterin nachgefragt.

 Sigrun Roßmanith (64) arbeitet als Psychiaterin und hat ein Buch über Mütter als Täter geschrieben.

Sigrun Roßmanith (64) arbeitet als Psychiaterin und hat ein Buch über Mütter als Täter geschrieben.

Foto: Sigrun Roßmanith

Frau Roßmanith, was können Sie aus Ihrer Erfahrung als Gerichtspsychiaterin über Eltern sagen, die ihre Kinder töten?

Roßmanith: Es gibt mehrere Motive. Wenn ein Paar ein Kind bekommt, verändert sich schlagartig die Beziehungsdynamik. Einer der Partner fühlt sich plötzlich überfordert, zu wenig beachtet. Nicht jedes Kind ist erwünscht. Eifersucht kann eine Rolle spielen. Das Kind zieht die Aufmerksamkeit auf sich. Bei Männern ist auch entscheidend, wie sie die Vaterrolle annehmen und ob sie den Kinderwunsch der Frau als aufgezwungen empfinden. Bei solchen Fällen beobachte ich außerdem immer wieder, dass die Täter keine Bewältigungsmechanismen entwickelt haben, wie sie konstruktiv mit Aggressivität umgehen. Daraus resultiert eine Tendenz zur Impulsivität.

Aber wie kann es überhaupt so weit kommen?

Roßmanith: Das Kind wird in solchen Fällen zum ,Giftbehälter‘. Das ist ein Fachbegriff aus der Psychiatrie. Er besagt, dass alle Probleme auf den Schwächsten abgeschoben werden. Das Kind verkörpert all das, was es an Störungen gibt — etwa, dass die Eltern nicht schlafen können, keine Zeit für andere Dinge finden. Wir beobachten dann, dass aus Ohnmacht mit Wut reagiert wird.

Laut Anklageschrift wurde Leo mehrere Stunden von seinem Vater gequält. Da muss es doch noch eine Möglichkeit geben, zwischendurch innezuhalten.

Roßmanith: Meistens ist die Tat nur die Spitze des Eisbergs. Jeder dieser Fälle hat eine Vorgeschichte von Gewalt. Auch Alkohol oder andere Suchtmittel können eine Enthemmung verursachen. Hinzu kommt, dass Menschen ihre eigene Brutalität bagatellisieren und sie als Ausrutscher abtun. Irgendwann ist dann der Punkt erreicht, wo sie sich eben nicht mehr zurückhalten können. Wobei man auch sagen muss: Wenn ein Säugling so misshandelt wird, ist das besonders brutal. Kinder lösen normalerweise einen Schutzreflex und Zuneigung aus. Da ist dann gar keine Empathie mehr vorhanden oder sie wird von Hass überlagert. Mütter, die ihre eigenen Kinder misshandeln, haben häufig auch eine eigene Gewaltgeschichte hinter sich.

Wie ordnen Sie ein, dass der Vater sein Kind nicht nur misshandelt, sondern auch sexuell missbraucht haben soll?

Roßmanith: Forensisch-psychiatrisch gibt es bei sexuellen Handlungen an Kindern eine Faustregel: Je größer der Altersunterschied zwischen Opfer und Täter, umso pathologischer ist die Persönlichkeit des Täters anzunehmen. Derartige Handlungen müssen jedoch nicht primär einen pädosexuellen Hintergrund haben. Es kann sich um eine sexualisierte Aggressivität handeln, im Extremfall um sadistische Handlungen. Das Kind wird gewaltsam, ohne mögliche Gegenwehr, sexuell ,unterjocht' und dabei der Selbstwert des Täters gestärkt.

Was fehlt Menschen, die gegen ihre Kinder aggressiv werden?

Roßmanith: Wer als Kind empathisch behandelt wurde, der kann später auch anderen so begegnen. Als Kind muss man die Erfahrung machen, dass die eigenen Bedürfnisse wahrgenommen werden. Daraus schöpfen Erwachsene die Ressourcen, mit ihren Spannungen umzugehen. Außerdem entwickeln Menschen, die als Kind mitfühlend und rücksichtsvoll behandelt wurden, nicht so große Aggressionspotenziale.

Wie erklären Sie, dass die Mutter nicht eingegriffen haben soll, um ihr eigenes Kind zu retten?

Roßmanith: Die Frage ist, inwieweit die Frau das konnte. Meistens spielt Angst eine große Rolle. Gerade wenn die Frauen selbst Erfahrungen mit Gewalt gemacht haben, haben sie gelernt, sich ruhig zu verhalten. Der andere Fall ist der, dass sie angenommen haben könnte, es sei nicht so dramatisch. Es kommt vor, dass Mütter die Situation verleugnen. Man erkennt die Gefahr nicht oder hofft wider besseres Wissen, dass es gut geht. Und zuletzt: Schützen kann nur, wer selbst das Gefühl des Schutzes erfahren hat. Die Fähigkeit zur Besorgnis entwickelt sich erst aus verinnerlichten guten Erfahrungen im Leben. Es ist entscheidend, wie dieses Elternpaar selbst aufgewachsen ist.

Sigrun Roßmanith (64) ist Fachärztin für Psychiatrie und psychotherapeutische Medizin. Ihre Praxis hat sie in Wien. Sie erstellt außerdem Gutachten für Gerichtsprozesse. Zuletzt erschien ihr Sachbuch "Sind Frauen die besseren Mörder?".

(heif )
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