Serie Was macht eigentlich? Picco hat Leben in die Altstadt gebracht

Mönchengladbach · Günter Netzer hat den Italiener 1970 aus Düsseldorf für seine neue Diskothek Lovers' Lane geholt. 31 Jahre war Picco Corazzini eine Institution im Mönchengladbacher "Nachtleben". Neun Lokale hat er in dieser Zeit eröffnet, sieben davon waren seine eigenen.

Als er 2001 aufhörte, hatte die Altstadt längst ihren Glanz verloren. "In den 70er Jahren ging Mönchengladbachs Ruf und Ausstrahlung weit über Düsseldorf und Köln, sogar ein wenig über Nordrhein-Westfalen hinaus. Unsere Altstadt war eine echte Marke — auch wegen der Verbindung mit Borussia", sagt Fernando Corazzini, den alle Welt nur "Picco" nennt, wehmütig. Und er sagt "unsere". Denn Mönchengladbach ist zur zweiten Heimat des 71-jährigen Italieners geworden.

Günter Netzer, in Borussias erstem Meisterjahr auf der Suche nach zusätzlichen Einnahmemöglichkeiten neben seinem ihm nicht ausreichenden Salär als Fußballer, hat Picco 1970 nach Mönchengladbach geholt — als Barkeeper und Geschäftsführer für die Diskothek, die er an der Waldhausenerstraße eröffnete. "Wir kannten uns aus Düsseldorf, wo ich Barkeeper im Florida und im California gewesen war", erzählt Corazzini, der 1969 bei einem deutschlandweiten Barkeeper-Wettbewerb den vierten Platz belegt hatte. Die Eröffnung von Netzers Lovers' Lane verzögerte sich allerdings wegen Auflagen der Stadt um einige Monate. Picco fand vorübergehend einen Job im King George an der Kapuzinerstraße, das er mit aufmachte.

Dann eröffnete Anfang 1971 das Lovers' Lane — und wurde zum Anstoß für die rasante Entwicklung der Gladbacher Altstadt. "Bis 1969 hatte es nur die Schwarze Spinne an der Waldhausener Straße, das Spinnrad an der Ecke Marktstieg/Kapuzinerstraße und das Tiffany's am Alten Markt gegeben", beschreibt Picco das damalige Angebot der Altstadt für Leute, die nicht einfach in Kneipen gehen wollten.

Das Lovers' Lane stieß genau in diese Marktlücke. Nicht zuletzt freilich auch, weil mancher hoffte, hier auf Netzer zu treffen. Picco: "Manchmal haben wir später einfach Günters Ferrari vor die Tür gestellt, wenn er selbst nicht da war." Aber nicht nur Netzer war "Stammgast" in seinem Lokal. Nach Spielen der Gladbacher traf man dort auch andere Borussen, gelegentlich aber auch andere Fußballstars. "Franz Beckenbauer, Wolfgang Overath oder Paul Breitner zum Beispiel waren da, einmal sogar die ganze Mannschaft Real Madrids. Oder deutsche Autorennfahrer um Hans Heyer", erzählt Helga Mumbauer, Servicekraft im Lovers' Lane und später in anderen Lokalen Piccos. "Der ehemalige Bundestrainer Sepp Herberger war zur Eröffnung da. Udo Jürgens kam auch schon mal, und dann saß ab und an Elke Sommer in der Küche auf einer Gemüsekiste." Zur Erklärung: Netzer hatte eine Zeit lang eine Schwäche für die blonde Schauspielerin. Die Möglichkeit, Prominente aus Sport und Showgeschäft hautnah zu erleben, trug neben der für damalige Zeiten ausgefallenen Einrichtung in schwarz und weiß maßgeblich zum Erfolg des Lovers' Lane bei. Aber auch die muntere Art von Piccos Damen. "Wir waren ein tolles Team, gut eingespielt, aber bei aller Lockerheit sehr gut organisiert und diszipliniert", sagt Picco. Er brachte einen neuen Stil ein: "Bis Ende der 60er Jahre machten Barkeeper ihren Job todernst. Ich aber habe mit den Gästen gequatscht, ein bisschen Show beim Mixen gemacht und auch zu später Stunde getanzt oder gar mal einen kleinen Striptease hingelegt — allerdings mit Wahrung gewisser Grenzen."

1973 ging Günter Netzer zu Real Madrid. Und Picco verließ bald darauf das Lovers' Lane — um sich selbstständig zu machen. Picobello hieß sein erstes Lokal, an der Aachener Straße. 1977 wechselte er auf die andere Straßenseite, machte das Charleston auf: oben Diskothek, unten gehobene Küche. 1984 folgte das Crazy an der Hindenburgstraße nahe beim Hauptbahnhof — wo er hinaus musste, als der ganze Komplex mit Kinos, Hotel und dem traditionsreichen Wintergarten abgerissen wurde. Es folgten 1987 das Chico, 1988 Piccos Extrablatt und das Restaurant Tomato. "Ich habe alle geliebt — aber immer aufgehört, wenn ein Laden gut lief und ich ordentlich Geld dafür bekam", erklärt Corazzini. Bis auf das Crazy ("Dabei habe ich viel verloren, weil ich raus musste") lagen alle im direkten Umfeld der Altstadt. Auch sein letztes — in dem er am längsten blieb: Piccos Pub mit dem davor liegenden, zur Außengastronomie einladenden Kapuzinerplatz. "Du hast Gladbach bewegt", hat ihm ein langjähriger Stammgast einmal gesagt.

2001 machte Picco dann Schluss: "Ich hatte fast 50 Jahre, angefangen noch als Schuljunge, in der Gastronomie gearbeitet. Ich wollte aufhören und das Leben genießen." Das tut er mit seiner Frau Renate, mit der er gute 46 Jahre verheiratet ist. Mit seinem Rennrad fährt er fast täglich seine 120, 130 Kilometer, sommers wie winters. Und dann gibt es noch eine andere Seite, über die er nicht viel spricht: Picco kümmert sich um ältere Menschen, besucht Kranke, hilft ihnen, macht Besorgungen.

Längst hat er natürlich ein Auto, nachdem er anfangs alles zu Fuß oder mit dem Mofa erledigt hatte: "Mein Führerschein aus Italien galt hier nicht, es dauerte sehr lange, bis ich die Unterlagen von dort zusammen hatte. Und weil ich durch meinen Beruf oft mit den Gästen trinken musste, war es gar nicht schlimm, dass ich lange kein Auto hatte." Aber ein Mofa — ein Geschenk Günter Netzers ...

(RP)
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