Interview mit Helmut Wallrafen-Dreisow Niemand pflegt gern schlecht

Mönchengladbach · Helmut Wallrafen-Dreisow, Geschäftsführer der Sozialholding, spricht über Skandale, Arbeitsbedingungen und die Zukunft der Altenpflege. Er sagt, dass Altenheime keine Hotels sind, aber dennoch All-inclusive-Pakete bieten.

 Als Helmut Wallrafen-Dreisow 1976 in der Altenpflege begann, lag das Durchschnittsalter der Bewohner bei 73 Jahren. Heute kommen die Menschen erst in der letzten Lebensphase ins Heim, sagt er.

Als Helmut Wallrafen-Dreisow 1976 in der Altenpflege begann, lag das Durchschnittsalter der Bewohner bei 73 Jahren. Heute kommen die Menschen erst in der letzten Lebensphase ins Heim, sagt er.

Foto: Detlef Ilgner

Immer wieder gibt es Skandale in der Altenpflege. Im jüngsten Fall wurde ein Pflegeheimbewohner von Ratten angenagt. In Mönchengladbach herrscht seit den Vorfällen im Caritas-Heim in Giesenkirchen 2010 Ruhe. Haben wir nur Glück?

Wallrafen-Dreisow Um es deutlich zu sagen: Keiner pflegt gern schlecht. Gute Pflege hängt auch entscheidend von den Rahmenbedingungen ab. Alle wollen Qualität, aber keiner will dafür mehr Geld ausgeben. Das Paradoxe ist, dass die Altenpflege in Deutschland bei allen Prüfungen gute Noten erhält, aber das gesellschaftliche Image schlecht ist. Das ist katastrophal für die Mitarbeiter, die mit viel Engagement arbeiten.

Wie kann es denn zu der Diskrepanz zwischen den guten Bewertungen und der gesellschaftlichen Wahrnehmung kommen?

Wallrafen-Dreisow Altenheime in Deutschland sind die meistgeprüften Einrichtungen. Sie werden häufiger und von mehr Institutionen überprüft als Atomkraftwerke. Das Problem ist: Eigentlich werden die falschen Kriterien geprüft. Die Qualität eines Altenheims hängt entscheidend von der Qualität des Personals ab. Wir als Sozial-Holding der Stadt Mönchengladbach sind qualitativ gut aufgestellt: Wir zahlen Tariflohn, wir bilden aus, und wir haben eine gut entwickelte Kultur der Mitbestimmung.

Haben Sie Probleme, Personal zu bekommen?

Wallrafen-Dreisow Nein. In den Ballungszentren gibt es schon akuten Personalmangel, aber in Mönchengladbach merken wir das momentan noch nicht. Das liegt sicher auch daran, dass die Rahmenbedingungen bei der Sozial-Holding stimmen. Wir werden ja auch immer wieder mit dem Siegel "Arbeit plus" der Evangelischen Kirche Deutschlands als guter Arbeitgeber ausgezeichnet.

Wie schließen Sie aus, dass in den Einrichtungen der Sozial-Holding Fehler passieren?

Wallrafen-Dreisow Fehler passieren jeden Tag, und zwar überall. Aber wir bemühen uns um Transparenz und eine positive Fehlerkultur. Es muss möglich sein, Fehler zuzugeben und daraus zu lernen. Oft liegen den skandalisierten Ereignissen in Altenheimen zwar Fehler zugrunde, aber das ist noch lange kein Skandal. Ein Beispiel: Eine Pflegerin verspricht einer Bewohnerin, mit ihr spazieren zu gehen. Während sie noch andere Aufgaben erledigt, will die alte Dame nicht warten und geht allein los. Draußen kommt sie zu Fall. Ist das ein Pflegefehler? Mag sein, aber noch kein Skandal. Hinter vielen Skandalen liegen ganz normale Verhaltensweisen.

Welchen Anspruch hat die Sozial-Holding? Wollen Sie die alten Menschen sicher verwahren oder ihnen ein Zuhause geben?

Wallrafen-Dreisow Wir wollen ihnen in der letzten Phase ihres Lebens ein menschenwürdiges Zuhause geben. Dabei beachten wir die Ansprüche der alten Menschen. Aber es gibt eine Diskrepanz zwischen den Ansprüchen der Bewohner und der Erwartungshaltung der Angehörigen. Bei Befragungen finden wir oft heraus, dass die Bewohner zufrieden sind, die Angehörigen unzufrieden.

Wie kann es zu solch unterschiedlichen Einschätzungen kommen?

Wallrafen-Dreisow Die Bewohner sehen auf andere Dinge als beispielsweise der Sohn, der alle sechs Wochen einmal zu Besuch kommt. Wenn ein Bewohner nicht mehr täglich gebadet werden möchte, richten wir uns danach. Für die Angehörigen ist das vielleicht schon mangelnde Hygiene. Wir sind kein Hotel und wir wollen es auch nicht sein, aber letztendlich bieten wir das All-inclusive-Paket.

Hat sich die Aufgabenstellung in den Altenheimen in den letzten Jahren verändert?

Wallrafen-Dreisow Es gab in der Tat massive Veränderungen. Als ich 1976 in der Altenpflege begann, lag das Durchschnittsalter der Bewohner bei 73 Jahren. Heute dagegen kommen die Menschen erst in der letzten Lebensphase ins Heim. Das Durchschnittsalter liegt bei 85 Jahren, 60 Prozent sind an Demenz erkrankt. Das macht es für diejenigen, die noch mobil und fit sind, schwieriger. Wir versuchen nach Möglichkeit, unterschiedliche Gruppen anzubieten, um den Ansprüchen aller gerecht zu werden. Auch für die Mitarbeiter hat sich die Arbeit durch den hohen Anteil an Demenzkranken verändert. Sie können nicht fragen, sondern müssen versuchen zu fühlen, was der Bewohner will. Das erfordert viel Einfühlungsvermögen.

Brauchen wir mehr Heimplätze oder ist das Angebot ausreichend?

Wallrafen-Dreisow Die Sozial-Holding verfügt über 615 Heimplätze. Wir sind zu 99 Prozent ausgelastet. Das heißt aber nicht, dass mehr Plätze benötigt werden. Neubauten sind eindeutig überflüssig. Das liegt daran, dass die Verweildauer im Heim von früher durchschnittlich acht Jahren auf vier Jahre zurückgegangen ist. Effektiv bedeutet das, dass doppelt so viele Plätze zur Verfügung stehen.

Eigentlich will niemand im Alter ins Heim. Es gibt Versuche wie die WG 2025, bei der sich ältere Menschen kennenlernen, um später in eine gemeinsame WG zu ziehen. Werden die Heime auf Dauer überflüssig?

Wallrafen-Dreisow Ich finde solche Versuche toll und freue mich, dass das auch in Mönchengladbach zu greifen scheint. Aber Altenheime wird es weiterhin geben. Sobald aus Bewohnern von Senioren-WGs Pflegefälle werden, sind die Wohngemeinschaften überfordert. Dann brauchen wir die stationäre Pflege. Heute ist es so, dass jeder vierte alte Mensch in einem Altenheim stirbt. Wir werden auch weiterhin Heimplätze benötigen, auch wenn das ambulante Angebot und das Betreute Wohnen ausgebaut und neue Wohnformen geschaffen werden.

Die Sozial-Holding bietet auch Betreutes Wohnen an. Wie hoch ist die Nachfrage?

Wallrafen-Dreisow Wir nennen das Wohnen mit Service. Bei uns zahlt jeder erst mal nur Miete. Ist zusätzlicher Service gewünscht, wird er extra bezahlt. Eine Servicepauschale wie bei anderen Anbietern gibt es nicht. Ich kann auch jedem nur raten, sich vorher erklären zu lassen, was die Pauschale beinhaltet. Hier mangelt es oft an Transparenz, und es kommen später unerwartete Kosten auf die Bewohner zu. Generell gibt es einen Bedarf an Angeboten gerade für die Mittelschicht, die die Miete selber zahlen kann.

In Berlin verhandeln die Parteien über die Regierungsbildung. Welche Wünsche haben Sie an die neue Bundesregierung?

Wallrafen-Dreisow Ich habe viele Gesundheitsminister kennengelernt. Ich würde mir wünschen, dass der neue Minister oder die neue Ministerin stärker auf die Basis hört und nicht so sehr auf die Funktionäre. Diejenigen, die im Altenheim arbeiten, es leiten oder Pfleger ausbilden, kennen die Praxis. Diese Erfahrung sollte berücksichtigt werden. Außerdem sollten die Kommunen aktiv eingebunden werden. Leben im Alter ist schließlich ein kommunales Thema.

RALF JÜNGERMANN, DIETER WEBER, INGE SCHNETTLER UND ANGELA RIETDORF FÜHRTEN DAS GESPRÄCH.

(RP)
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