Kairotisch (8) Nähe - immer und überall

Mönchengladbach · Ein herzallerliebster Anblick bietet sich jeden Tag auf den Straßen Kairos, wo Männerfreundschaften an Intimität grenzen. Im Land der traditionellen Homophobie sind sich umarmende, händchenhaltende und untergehakte Männer alltäglich. Kein Mann käme darauf, sich schwul zu finden, es ist Freundschaft. Das Anfassen, Berühren und Führen sind sichtbare Parts der kairotischen Mentalität.

Kairotisch (8): Nähe - immer und überall
Foto: Katja Möltgen

Nähe. Ich kann mich bis jetzt noch nicht vollständig daran gewöhnen, dass alle einem hier so nah zu kommen scheinen. Es ist wie eine unendliche Freundlichkeit, in der man ertrinkt, gepaart mit dem Drang gesehen zu werden, dem Wunsch nach Aufmerksamkeit und einem uneinschätzbaren Spieltrieb. 20 mal am Tag "Welcome to Egypt", und 15 Arabischlehrer in petto. Die vielen Hilfsangebote, mit denen sie mich seit meiner Ankunft überschütten, muss ich im Grunde nur verwalten, aber auch Luxusprobleme können mich überfordern. Jeder möchte seine Zeit opfern, um mir die schönsten Ecken zu zeigen: Gibst du mir deine Nummer, Facebook? Wie wäre es heute? Morgen? Auf der Straße, an jeder Ecke will jemand reden, mit dir einen Kaffee trinken und dich natürlich wiedersehen.

Für mich als Frau ist der vordergründige Eindruck, dass diese Aufmerksamkeit nur sexuell zu verstehen sein kann — manchmal stimmt das, oft nicht. Auf der Straße ist es ein spielerischer Kampf, der Drang nach Reaktion, danach, Energie in dir freizusetzen, und wer Unsicherheit zeigt, verliert. Wenn ich mich unsicher fühle, werden die Ansprachen dreist und unangenehm, aber wenn ich in mir ruhe, meine Grenzen hatte, dann entstanden bislang nur freundliche, respektvolle Gespräche. Es gehört nicht viel dazu, und man wird zu den Freunden gezählt und in den Alltag wie selbstverständlich mit eingeplant. Viele Europäer sind genau wie ich von dieser Unmittelbarkeit und Nähe überfordert, und ich frage mich warum. Wir sind daran gewöhnt, dass Reibung zunächst auf der Metaebene weichgespült wird, aber die gibt es hier nicht — und ich lerne dabei eine interessante Lektion.

DIE GLADBACHERIN KATJA MÖLTGEN (24) STUDIERT DESIGN AN DER HOCHSCHULE NIEDERRHEIN. DERZEIT VERBRINGT SIE DREI MONATE IN KAIRO. IHRE EINDRÜCKE SCHILDERT SIE AUCH AUF IHREM BLOG "KAIROTISCH": HTTP://KAIROTISCH.BLOGSPOT.COM/

(RP)
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