Kolumne Denkanstoß Namen, die keiner mehr kennt

Mönchengladbach · Unser Autor berichtet von einem Besuch in der Partnergemeinde der evangelischen Kirche Rheydt im polnischen Masuren – früher Ostpreußen.

 Blick über den Kalbensee auf die evangelische Kirche Pasym. Der Turm wurde 1391 von Deutschen Ritterorden erbaut.

Blick über den Kalbensee auf die evangelische Kirche Pasym. Der Turm wurde 1391 von Deutschen Ritterorden erbaut.

Foto: Olaf Nöller

Kürzlich kam ich aus „Ostpreußen“ zurück. Darf man das noch so sagen? Kennt diesen Namen überhaupt noch jemand? Ich gehöre zur letzten Generation, die das 1969 im Erdkundeunterricht lernte, wo Stettin, Breslau und Danzig liegen. Damals vor dem Grundlagenvertrag mit Polen 1970 wurde offiziell noch so getan, als könnten die traurigen Fakten, die die Nazis hinterlassen haben, rückgängig gemacht werden. Königsberg, die einstige Metropole Ostpreußens, ist heute russisch und heißt Kaliningrad. Ostpreußen als preußische Provinz und als östlichsten Teil Deutschlands gibt es seit 1945 nicht mehr.

Heute reisen wir in die Woiwodschaft Ermland-Masuren in Nordostpolen. Dort ist die Ev. Kirchengemeinde Rheydt seit über 20 Jahren mit der in der Diaspora lebenden Ev.-augsburgischen Gemeinde Pasym (Passenheim) partnerschaftlich verbunden. Die eindrucksvolle Kirche, die den See und die weite Landschaft überragt, stammt aus dem 14. Jahrhundert. Sie wurde – wie fast alle Kirchen in Masuren – 1525 evangelisch. Herzog Albrecht, der letzte Hochmeister des Deutschen Ritterordens, führte damals auf Anraten Luthers die Reformation in Preußen ein. Das erste protestantische Land Europas. Aber das ist lange her...

 Olaf Nöller mit seiner Freundin Waltraud Prymusiewicz in Pasym, Masuren.

Olaf Nöller mit seiner Freundin Waltraud Prymusiewicz in Pasym, Masuren.

Foto: Olaf Nöller

Heute heißen nur noch Fußballvereine rund 1000 Kilometer entfernt nach diesem Land, dessen Ureinwohner einst das baltische Volk der „Pruzzen“ waren. Wenn ich die Konfirmanden frage, was „Borussia“ übersetzt heißt, dann schauen sie mich erstaunt an. Ich antworte: „Frau Preußen“, so wie man „Germania“ auch mit „Frau Deutschland“ übersetzen könnte. Ein paar Spuren außer den „Königsberger Klopsen“ hat dieses untergangene Land also auch hier hinterlassen. Auch Familiennamen wie Burdinski, Oleschewski, Orlowski, und Schimanski verweisen häufig auf eine Herkunft in Ostpreußen.

Schön, dass es noch „waschechte“ Ostpreußen gibt – hier bei uns und in Masuren! Zu ihnen gehört auch meine Freundin Waltraud, die bei ihrer Tochter in Szczytno (Ortelsburg) lebt. Bald wird sie 90 Jahre alt. Jahrzehnte lang war diese tüchtige Frau Küsterin in der Filialkirche meines polnischen Kollegen. Als ältestes von vielen Geschwistern geboren lebte Waltraud bis Januar 1945 in Scheufelsdorf. Dann floh die Familie vor der russischen Front und gelangte unter dramatischen Umständen nach Königsberg, das wenig später auf Hitlers Befehl zur Festung erklärt wurde. Ein SS-Mann schlug ihr dort heftig ins Gesicht, weil sie nicht lange genug den Arm zum „deutschen Gruß“ gehoben hatte… Von Pillau aus wurden sie über das Meer abtransportiert. Waltraud dankt Gott, dass ihr Schiff nicht versenkt wurde wie andere Flüchtlingstransporter. Sie wurden in Dänemark abgesetzt, wo man sie nach Kriegsende internierte. Hinter Stacheldraht – freilich mit guter Versorgung – harrten sie der Dinge. Hier, im Lager, wurde Waltraud konfirmiert. Nach der Entlassung fragte man: „Wohin wollt ihr?“ Als eine Verwandte in Westfalen ablehnte, sie aufzunehmen, sagte die Mutter: „Wir gehen nach Hause!“ Das bedeutete nach Ostpreußen. Aber als sie Ende 1946 in dem verwüsteten Land anlangten, hieß Scheufelsdorf schon Tylkowo und ihr Haus wurde von Polen bewohnt.

Waltraud blieb in Masuren. Sie fand einen guten Mann, der aus Warschau stammte, und während des Krieges als Zwangsarbeiter nach Deutschland verschleppt gewesen war. Mit ihm gründete sie eine Familie. Er, der Katholik, hütete mit ihr zusammen die wunderschöne Kirche, die so viel von den Zeiten erzählt, als Dzwierzuty noch in Deutschland lag und Mensguth hieß. Waltraud ist für mich eine typische Vertreterin des ostpreußischen Menschenschlages: Herzlichkeit, Bescheidenheit, Dankbarkeit und dazu den kühnen Mut, alles in der Kraft des Glaubens zu tragen. Als ich mich verabschiede, wünscht sie nichts mehr als Frieden. „Dafür würde ich von Wasser und Brot leben, wenn es nur helfen würde, dass kein Krieg mehr kommt“, sagt sie leise.

Olaf Nöller ist evangelischer Pfarrer in Rheydt.

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