Denkanstoß Mönchengladbach „Die Zeit geht hin, der Tod kommt her…“

Mönchengladbach · Unser Autor Olaf Nölle macht sich einige Gedanken zum Totensonntag. Er appelliert: „Nutze deine Zeit“. Und rät, die Gegenwart auszukosten und alles Schöne, das uns geschenkt wird, dankbar anzunehmen.

 Kirchenuhr aus der Barockzeit in der Marienkirche in Bergen auf Rügen.

Kirchenuhr aus der Barockzeit in der Marienkirche in Bergen auf Rügen.

Foto: Olaf Nöller

Alte Kirchen spiegeln den Glauben vergangener Zeiten und Menschen wieder. Auch wenn manches fremd erscheint, es lohnt sich doch, in einen Dialog einzutreten mit den Glaubenszeugnissen unserer Vorfahren. Im September erging‘s mir so, als ich die St.-Marien-Kirche in Bergen auf Rügen besichtigte. Ich wollte den imposanten Backsteinbau schon wieder verlassen, als mein Blick auf eine Uhr fiel. Es handelt sich um ein typisches Kunstwerk des Barock: Man sieht den Tod als Knochenmann dargestellt – beinahe lässig hingestreckt auf einem Ruhebett. Zwei Engel halten unterhalb das Zifferblatt und zeigen so, was die Uhr geschlagen hat. Oberhalb von „Gevatter Tod“ ist in goldenen Buchstaben zu lesen, was mich auch jetzt fasziniert: „Die Zeit geht hin, der Tod kommt her, ach, dass ich täglich fertig wär‘!“

Mich beschäftigt zunächst der Mut derer, die sich dem Gedanken der eigenen Endlichkeit aussetzten. Jeder Blick zur Uhr sollte offenbar an das unaufhaltsame Verrinnen der Lebenszeit und das Näherkommen der Todesstunde erinnern. Wir mögen fragen: Wird ein Mensch nicht trübsinnig, wenn er immer an den Tod denken soll? Wichtig zum Verständnis ist, dass der Tod damals nicht so weit weg war, wie das heute für uns öfter der Fall ist. Es gab eine hohe Kindersterblichkeit, und viele Krankheiten, die wir heute mit ein paar Tabletten besiegen, endeten tödlich. Noch im 18. Jahrhundert wüteten große Pandemien wie die Pest, und die ganze Epoche war überschattet durch die Katastrophe des Dreißigjährigen Krieges. Dennoch blickten die Menschen dem Tod viel mutiger ins Auge als wir heute.

Und dann zieht der Sinnspruch noch einen Schluss, der auch mir zur Selbstermahnung wird: „…ach, dass ich täglich fertig wär‘!“. Was bedeutet das? Meint es vielleicht, dass ich am Ende eines jeden Tages so eine Art „Abschluss“ mache, mal ganz kurz „Bilanz“ ziehe und mich frage: Was würde denn eigentlich Wichtiges liegenbleiben, wenn ich morgen früh nicht mehr aufwachte? Mich haben in der Seelsorge immer jene zumeist älteren Ehepaare beeindruckt, die mir anlässlich eines Ehejubiläums berichteten, dass sie sich vor dem Schlafengehen immer vertragen hätten, wenn‘s am Tage mal ‘ne „Krabbelei“ gab. Sie wollten am Ende des Tages wieder gut miteinander sein und am Morgen unbeschwert etwas Neues beginnen können. Ein kluger Rat. Umgekehrt habe ich auch Menschen getroffen, die innerlich zerrissen waren, weil der Tod sie von einem Menschen geschieden hatte, mit dem sie gerade im Unfrieden waren.

Die meisten von uns haben im Laufe der Jahre durch persönliche Verluste die Vorstellungskraft entwickelt, dass auch die eigene Lebenszeit urplötzlich zu Ende sein kann. Die „Kunst des Lebens“, sie könnte auch darin bestehen, wirklich Wichtiges nicht auf später zu verschieben und auch nicht allzu weitgespannte Pläne zu machen. Wir sollten „Erfüllung“ mehr im Hier und Jetzt suchen und entsprechend handeln. Ja, wir dürfen und sollen – wo immer es uns möglich ist –  unsere Gegenwart auskosten und alles Schöne, das uns geschenkt wird, dankbar annehmen.

In „meiner“ Gegenwart habe ich große Handlungsspielräume. „Nutz deine Zeit!“, steht am Kirchturm der St.-Laurentius-Kirche in Odenkirchen, und darin steckt sicher auch der Gedanke, dass Gott uns nach dem Tod fragen wird: „Mensch, wie hast du gelebt in der Zeit, die ich dir als mein Geschöpf zugedacht habe?“ Dem Ewigen dann Antwort zu geben, auch das begründet Verantwortung im Hier und Jetzt.

Eine Freundin schrieb mir zum Geburtstag eine Glückwunschkarte, auf der auch ein Denkspruch zu lesen ist: „Die Zeit ist kurz. O Mensch, sei weise und wuchere mit dem Augenblick. Nur einmal machst du diese Reise, lass eine Segensspur zurück.“ Ich finde, das passt sehr gut zu dem Wort von der Insel Rügen. Auch in ihm begegnet ja einerseits eine nüchterne, illusionslose Betrachtungsweise unseres Menschseins: „Die Zeit ist kurz“. Andererseits lädt er aber auch dazu ein, die Einmaligkeit unseres Lebens mit dem kühnen Gedanken zu verbinden, dass wir Gottes Segensträger und Segensträgerinnen sein sollen. Es ist nämlich immer noch so, wie Gott schon dem Erzvater Abraham in der hebräischen Bibel zusagte: „Ich will dich segnen, und du sollst ein Segen sein!“ (1. Mose 12). Eine tolle Ermutigung für Juden, Christen und Muslime, und auch für alle Nachdenklichen, die sich hin und wieder fragen: „Was bleibt, wenn ich von der Bühne des Lebens abtreten muss?“

Olaf Nöller ist evangelischer Pfarrer in Rheydt.

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