Denkanstoß aus Mönchengladbach Zwei Realitäten mitten in Europa

Mönchengladbach · Unsere Autorin steht in regelmäßigen Kontakt zu einer Ukrainerin, die in ihrem Land geblieben ist. Dort macht sich immer mehr Verzweiflung breit und das Gefühl, allmählich vergessen zu werden. Tatsächlich dominieren hier momentan eigene, andere Sorgen, findet die Leiterin der Philippus Akademie. Was sie sich vorgenommen hat.

 Viele verzweifelte Ukrainer fragen: „Warum lässt Gott das zu?“

Viele verzweifelte Ukrainer fragen: „Warum lässt Gott das zu?“

Foto: dpa/Emilio Morenatti

Vor einigen Tagen habe ich wieder eine lange Mail von Natalia  bekommen. Natalia ist Ukrainerin. Sie lebt und arbeitet in Kiew. Ich kenne sie seit dem Kriegsausbruch. Sie arbeitet in einer kirchlichen Hilfsorganisation, die Unterstützung für Menschen in der Ukraine organisiert, die von den Kriegshandlungen betroffen sind.

Seit Februar treffen wir uns regelmäßig mit anderen an einem digitalen „Runden Tisch“. Die Briefe von Natalia haben sich im Laufe der letzten Monate verändert. Zu Beginn des Krieges schrieb sie entschlossen und deutlich: „Wir stehen zusammen und leisten Widerstand!“ Ihre eigene Flucht aus dem Land hat sie auf halber Strecke abgebrochen. Jetzt merkt man Müdigkeit und auch Verzweiflung in dem, was sie uns mitteilt. Sie schreibt, dass die Menschen in der Ukraine das Gefühl haben, dass das Interesse an ihrer Situation bei den Menschen in Europa nachlässt. Dabei sei die Not riesig. Viele Frauen und Kinder verletzt oder tot oder auf der Flucht. Teile des Landes verwüstet. Sie klagt über Isolation – „kommt, kommt uns besuchen!“ schreibt sie. Die, mit denen sie zusammenarbeitet und viele andere würden sich die Frage stellen: „Wie kann Gott so etwas zulassen?“ Alle. Alle stellen diese Frage, schreibt Natalia.

 In der Zwischenzeit haben wir Urlaub gemacht, haben über volle Strände geklagt, mit einem Ohr Nachrichten von Pegelständen, Gaspreisen und Waldbränden gehört – ja, ich weiß, nicht alle, aber viele. Der Krieg in der Ukraine steht nicht mehr auf den Titelseiten – stattdessen geht es um Inflation und Gasumlage. Manche Politiker befürchten, dass es im Herbst Unruhen geben könnte, wegen der Gasversorgung und steigender Preise.

Ich schäme mich, wenn ich mich auf Natalias Frage „Wie geht es dir?“ sagen höre, dass bei uns die Butter teurer geworden ist. Oder, dass der Gaspreis steigt, sodass die Regierung darüber nachdenkt, wie ich entlastet werden kann. Oder, dass in meinem Urlaubsort das russische Restaurant geschlossen hat, wo es immer so gemütlich war. Oder, dass ich einfach gar nicht weiß, was ich zu ihrer Frage nach Gott sagen soll.

Mitten in Europa erleben wir verschiedene Realitäten. Die, die nach Gott schreit und die, die uns in Sorge um Butter und Badewasser verharren lässt. Ich habe Natalia zurückgeschrieben. Eine kurze Antwort – was kann man auch sagen? Im November werden wir sie besuchen.

( Martina Wasserloos Strunk)
Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort