Serie Gladbacher Lesebuch (53) Eine neue Heimat am Niederrhein

Mönchengladbach · Eva Acker kam 1965 mit ihrer Familie aus dem polnischen Zabrze nach Mönchengladbach – und hatte es anfangs nicht leicht, Freunde zu finden. Doch das änderte sich nach einem Umzug nach Rheindahlen.

 Herr Bachmann, Eva Ackers Vater, als stolzer Besitzer eines neuen VW Käfer 1300 im Jahr 1969.

Herr Bachmann, Eva Ackers Vater, als stolzer Besitzer eines neuen VW Käfer 1300 im Jahr 1969.

Foto: Eva Acker

Nachdem meine Eltern als Deutsche nach einigen Jahren unzähliger Absagen endlich die Genehmigung zur Ausreise nach Deutschland erhalten haben, sind wir – das waren meine Eltern, mein Bruder (11 Jahre) und ich (7 Jahre) – im Oktober 1965 als Aussiedler aus dem polnischen Zabrze nach Mönchengladbach gekommen.

Die Ausreise erfolgte mit dem Zug und war für mich als siebenjähriges Mädchen sehr aufregend. Besonders den Zwischenstopp am Bahnhof Berlin-West habe ich noch in sehr guter Erinnerung. Wir durften nicht aussteigen, jedoch reichte uns eine in Berlin-West lebende Tante durch das herunter gelassene Fenster Lebensmittel. Zum ersten Mal in meinem Leben habe ich eine Banane gegessen. Die Fahrt endete erst einmal im Auffanglager Friedland. Dort wurde man als Aussiedler registriert und erhielt die deutschen Ausweispapiere.

 Familie Bachmann: Eva Acker (geborne Bachmann) ihr Bruder Martin Bachmann und ihre Eltern im Jahre 1963, zwei Jahre bevor ihre Ausreise genehmigt wird.

Familie Bachmann: Eva Acker (geborne Bachmann) ihr Bruder Martin Bachmann und ihre Eltern im Jahre 1963, zwei Jahre bevor ihre Ausreise genehmigt wird.

Foto: Eva Acker

Das war für meine Eltern ein großer Moment. Zur damaligen Zeit war die deutschstämmige Bevölkerung in Polen vielen Repressalien ausgesetzt und alles „Deutsche“ war verboten, auch die Sprache. Laut meiner polnischen Geburtsurkunde hieß ich „Ewa“ (ausgesprochen Äwa) und mein Bruder „Marcin“. In den neu ausgestellten deutschen Ausweisen hießen wir dann endlich Eva und Martin. In Friedland konnten wir uns sogar in der Kleiderkammer des DRK etwas aussuchen. Meine Mutter war überwältigt und hat vor Freude geweint.

Am Mönchengladbacher Hauptbahnhof wurden wir von Verwandten, die bereits ausreisen durften und in Mönchengladbach wohnten, herzlich begrüßt.

 Eva (links) und ihre Freundin Erika (rechts) auf dem Balkon ihrer Wohnung.

Eva (links) und ihre Freundin Erika (rechts) auf dem Balkon ihrer Wohnung.

Foto: Eva Acker

Untergebracht wurden wir von Amts wegen im ehemaligen Alexianer-Kloster, das sich damals an der Alexianerstraße befand. Im Erdgeschoss wohnten Obdachlose und kinderreiche Familien aus Mönchengladbach und die erste und zweite Etage waren für Aussiedler vorgesehen. Das uns zugewiesene Zimmer mit zwei Metallstockbetten war spärlich eingerichtet, aber wir waren sehr glücklich, endlich in Freiheit leben zu dürfen.

Das Kloster befand sich in Nähe der Carl-Sonnenschein-Schule, was mich sehr freute, da ich unbedingt in die Schule wollte. Meine Einschulung sollte im August in Polen erfolgen. Da meine Eltern jedoch bereits die Genehmigung zur Ausreise für Oktober erhielten, wurde ich nicht mehr eingeschult. In der Hoffnung einer Ausreisegenehmigung nach Deutschland haben wir zu Hause immer nur deutsch gesprochen, so dass ich bei einer Einschulung in die polnische Schule Probleme bekommen hätte. Vor unserer Ausreise feierten meine Eltern mit mir eine „Pseudo-Einschulung“. Ich bekam einen Tornister und eine Schultüte, meine Oma nähte mir ein neues Kleid und mein Onkel Peter hat alles mit seiner Kamera festgehalten. Heute noch bin ich meiner Mutter sehr dankbar für diese großartige Idee.

 Evas „Pseudoeinschulung“.

Evas „Pseudoeinschulung“.

Foto: Eva Acker

Der Schuldirektor der Carl-Sonnenschein-Schule hatte seine Bedenken, da das Schuljahr hier in Deutschland bereits nach Ostern begonnen hatte. Da ich jedoch bereits schon monatelang vorher von meiner Mutter unterrichtet wurde, ist mir der Anschluss leicht gefallen und ich musste nicht zurückgestellt werden. Von meinen Mitschülern wurde ich gemieden. Erstens wegen meiner „polnischen Herkunft“ und zweitens weil ich ein Kind „aus dem Kloster“ war. Damals habe ich es nicht verstanden, dass in Polen die polnischen Kinder mit mir nicht spielen wollten, weil ich Deutsche war und jetzt in Deutschland meine Mitschüler „Polackenkind“ zu mir sagten. Mein Klassenlehrer, Herr Spindler, war mir in dieser Zeit ein guter Freund und Gesprächspartner. In den Pausen auf dem Schulhof leistete er mir immer Gesellschaft, da keiner mit mir spielen wollte.

Kurz vor dem ersten Weihnachten im Westen wurde mein Bruder mit ansteckender Hepatitis im Franziskus-Krankenhaus unter Quarantäne gestellt. Mit dem Wissen, dass mein Bruder Weihnachten nicht bei uns sein kann, wurde auf die Schnelle Heiligabend gefeiert und mein Bruder erhielt vor seiner Einweisung ins Krankenhaus sein Weihnachtsgeschenk. Ein Plattenspieler! Die dazugehörigen Singles hatte meine Mutter in einem Plattenladen am Bismarckplatz erstanden. Dort konnte man für 50 Pfennig aus den Juke-Boxen ausrangierte Platten kaufen.

Meine Eltern fanden sofort Arbeit und mein Vater erwarb von seinem  ersten Lohn für 50 DM einen alten VW-Käfer. Dieser war lebenswichtig, da mein Vater bei der Firma T&N (Telefonbau und Normalzeit) im Außendienst arbeitete. Er war Jahre später immer sehr stolz, dass er beim Bau der Grefrather Eissporthalle für die Installation der Uhr- und Telefonanlage verantwortlich war.

Eines Tages zog eine neue Aussiedlerfamilie aus Polen im „Kloster“ ein. Die Tochter Erika war ein Jahr älter als ich und wir wurden Freundinnen. Die Freundschaft besteht jetzt bereits 54 Jahre. Nach eineinhalb Jahren eisernen Sparens war es so weit. Im März 1967 konnten wir unsere Wohnung in Rheindahlen an der Gerkerather Mühle beziehen. Sie befand sich in einem Mehrfamilienhaus, das neben der Mühle gebaut wurde. Jeden Tag ging ich nun über das Feld zu meiner neuen Schule in Gerkerath.

Mit der Zeit wurden viele neue Häuser gebaut, und auch meine Freundin Erika wohnte in unserer Nähe. Neue Freundschaften kamen hinzu und ich verbrachte eine wunderschöne Kindheit. Im Sommer fuhren wir mit unseren Rollschuhen oder spielten Gummi-Twist, und im Winter waren wir bis zur Dunkelheit mit unseren Gleitschuhen unterwegs. Nach kurzer Zeit konnten sich meine Eltern einen neuen VW-Käfer leisten. Viele schöne Ausflüge in die Eifel, in den Westerwald (meine Großmutter wohnte dort) und zum Drachenfels waren für mich die Highlights. Besonders die Ausflüge zum Drachenfels waren für mich das Allergrößte, da sich zu damaliger Zeit auf dem Weg nach oben einige Buden mit Souvenirs befanden. Jedesmal konnte ich meinen Vater davon überzeugen, dass mir der Kinderring oder das Kinderarmband sehr gut stehen würde. Mein Vater konnte nie „nein“ sagen! Für meine Eltern waren anfangs die Ausflüge an den Rhein sehr emotional, da sie vor der Ausreise immer davon geträumt hatten.

Als Teenager wurde ich mit meinen vier Freundinnen (Erika, Renate, Petra und Gaby) Mitglied im Tischtennisverein Rheindahlen. Nach dem Training gingen wir meistens in die Imbissbude Baltes an der Beecker Straße. Bei Pommes schmissen wir unser Kleingeld zusammen und speisten damit die Juke-Box. T-Rex, The Sweet, Barry Ryan, Middle of the Road und viele andere waren unsere Stars. Es war eine sehr schöne und unbeschwerte Zeit.

Heute empfinde ich es als großes Geschenk, dass zwischen Polen und Deutschen viele Freundschaften entstanden sind. Unser Neffe wohnt in Warschau und heiratet bald seine polnische Verlobte. Ich wünsche mir, dass unsere Kinder und Enkelkinder in einem vereinten und friedlichen Europa aufwachsen können.

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