Zu Gast im Gymnasium an der Gartenstraße Holocaust-Zeitzeugin berichtet von ihrer Flucht

Mönchengladbach · Tamar Dreifuss ist auf fast wundersame Weise den Nazis entkommen. Ihre Schilderungen verbindet sie mit einem Appell.

 Die Holocaust-Zeitzeugin berichtete im Gymnasium an der Gartenstraße von ihrer Flucht vor den Nazis.

Die Holocaust-Zeitzeugin berichtete im Gymnasium an der Gartenstraße von ihrer Flucht vor den Nazis.

Foto: GAG

(RP) Die Aula ist fast vollständig gefüllt. Trotzdem ist es mucksmäuschenstill. Die Oberstufenschüler  hören gespannt den Schilderungen von Tamar Dreifuss zu. Sie berichtet gerade, wie es ihrer Mutter gelungen ist, nach der Deportation aus ihrer Heimat aus dem Durchgangslager Tauroggen zu fliehen.

„Wir kamen zu den Gemeinschaftsduschen, aus denen Gott sei Dank nur Wasser kam“, berichtet sie. Alle Zuhörer wissen, dass dies ein großes Glück war. „Nach den Duschen hat meine Mutter sich zu dem Kleiderhaufen gekämpft und ein schönes Kostüm für sich und für mich ergattert. Sogar eine Schleife hat sie mir ins Haar gemacht. Dann sind wir in diesen Anziehsachen einfach über den Hof marschiert. Um uns herum nur Soldaten. Keiner hat uns beachtet.“

Eine Szene, die sich im Gedächtnis der damals Sechsjährigen verfestigt hat. „Ich habe meine Mutter gefragt: ‚Mama, sehen sie uns nicht?‘ Als wir auf das Tor zukamen, bat meine Mutter mich, zu beten. Und wie durch ein Wunder wurde der Soldat durch Schüsse irgendwo abgelenkt und das Tor ging auf. Wir waren in Litauen.“

Tamar Dreifuss ist 1938 in Wilna, dem heutigen Vilnius, geboren. Ihre ersten Jahre verliefen relativ ruhig. Ihre Eltern gaben der Tochter einen jüdischen Namen. Hitler war schließlich noch weit weg. 1940 musste die Familie dann nach Ponar ziehen. Ein Jahr später, nach dem Einmarsch der Deutschen, wurden sie Zeugen von Massenerschießungen. Unter den Opfern war die Großmutter. In Ponar wurde ein jüdisches Ghetto eingerichtet. Eine von Adeligen adoptierte Jüdin, die dann katholisch erzogen wurde, „Tante Janina“, nahm das kleine Mädchen zu sich, damit sich seine Überlebenschancen erhöhten, es sollte ab nun Theresa heißen. Tamar verriet zwar ihre jüdische Identität gegenüber einem Nazi, der aber Tante Janina nicht auslieferte.

Tamar musste zu ihren Eltern ins Ghetto zurückkehren und erlebte dort das Elend und entsetzlichen, teilweise tödlichen Hunger. Im September 1943 wurde Tamar von ihrem Vater getrennt, er wurde ebenfalls ein Opfer des Naziterrors. Ihre Mutter sollte mit ihr zusammen deportiert werden und versuchte mehrfach zu fliehen. „Das Motto meiner Mutter war: Lieber auf der Flucht erschossen zu werden, als wie die Kälber zur Schlachtbank und damit ins Gas geführt zu werden.“ Der vielleicht unwahrscheinlichste Fluchtversuch gelang. Aber warum? „Meine Mutter ist so aufrecht gegangen. Vielleicht sah sie nicht aus wie eine Gefangene. Ich glaube, wir waren die einzigen Überlebenden der ganzen Kolonne.“ Bis zum Kriegsende kamen Mutter und Tochter auf verschiedenen Bauernhöfen unter, mussten aber immer wieder um ihr Leben bangen.

Nach dem Krieg wanderte die Familie nach Israel aus. Doch Tamar Dreifuss kehrte 1959 nach Deutschland, in das Land der Täter, zurück. „Der Liebe wegen“, sagt Tamar Dreifuss. „Ich habe immer wieder versucht, nach Israel zu kommen. Aber Deutschland ist wohl mein Schicksal, dagegen kann man nicht ankämpfen.“ An anderer Stelle sagt sie: „Litauen ist meine erste Heimat. Israel meine zweite. Und Deutschland ist meine Aufgabe.“ Seit 20 Jahren kämpft Tamar Dreifuss gegen das  Vergessen. Sie besucht Schulen und liest aus dem Buch ihrer Mutter, das sie ins Deutsche übersetzt hat, oder aus ihrem eigenen Kinderbuch über ihr Leben.

Immer wieder appelliert Dreifuss an die Schüler: „Wir sind nur Tropfen auf dem heißen Stein. Aber auch viele Tropfen können einen Stein zum Schmelzen bringen. Ihr seid die Tropfen!“ Ihre Aufgabe sei jetzt aktueller denn je. Auf die Frage, ob ihr heute noch Hass entgegenschlägt, antwortet sie: „Natürlich. Wieder mehr. Der Hass richtet sich gegen alles Fremde. Dabei sind wir doch alle gleich.“

Die Schüler scheinen ihre Aussage verstanden zu haben, denn sie sind „die Zeitzeugen von morgen.“  Nach eineinhalb Stunden endet die Veranstaltung. Zurück bleibt der Eindruck von einer starken Frau, die diese Stärke nach eigener Aussage von ihrer Mutter geerbt hat: „Diese Veranstaltungen sind eine Laudatio für meine Mutter, die alles dafür getan hat, damit ich lebe.“

Die Erlebnisse von Jetta Schapiro-Rosenzweig, Tamar Dreifuss‘ Mutter,  sind unter dem Titel „Sag niemals, das ist dein letzter Weg“ erschienen, das Kinderbuch von Tamar Dreifuss trägt den Titel „Die wundersame Rettung der kleinen Tamar 1944“.

(RP)
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