Textilindustrie als Wesenskern Die Arbeit an der Identität der Heimat

Mönchengladbach · Mönchengladbach müsste seine textilindustrielle Tradition noch viel stärker ins Rampenlicht stellen, meinen die Macher der Geschichtswerkstatt. Diese Historie könne Kern einer gesamtstädtischen Identität sein. Borussia alleine sei nicht genug.

 Die Geschichtswerkstatt im Gladbacher Haus der Erinnerung an der Hehner Straße.

Die Geschichtswerkstatt im Gladbacher Haus der Erinnerung an der Hehner Straße.

Foto: Isabella Raupold

Bei Herbert Grönemeyer denkt man eher an Bochum und Oden an den Kohlenpott. Dennoch hat Hans Schürings einem Aufsatz über die Heimat Mönchengladbach ein Zitat aus einem Song von Grönemeyer vorangestellt: „Heimat ist kein Ort, Heimat ist ein Gefühl“. Und Schürings hat das Gefühl, dass die Einwohner dieser Stadt zum richtigen Kern eines identitäts- und heimatstiftenden Selbstbildes noch nicht im nötigen Maße gelangt sind. „Die Frage nach einer gesamtstädtischen Identität steht seit langem unbeantwortet im Raum, denn heimatliche Gefühle werden schwerlich in Zusammenhang mit der heutigen zusammengewürfelten Gesamtstadt Mönchengladbach gebracht“, meint Schürings. Eine Antwort auf diese Frage hat er auch: „Wenn überhaupt, könnte ein gemeinsamer Nenner heimatbildender Gefühle vielleicht in der mehr als 200-jährigen Geschichte der Textilindustriekultur in Mönchengladbach liegen.“

Heimat resultiert also aus Herkunft und Vergangenheit. Darum ist sie auch ein Thema für die Mönchengladbacher Geschichtswerkstatt, deren Arbeit von Hans Schürings und Karl Boland vorangetrieben wird. Derzeit betreuen sie ein Buch mit dem Titel „Heimat und Identität in Mönchengladbach und Rheydt“, das noch in diesem Jahr vor Weihnachten erscheinen soll. Diverse Autoren beleuchten darin in Einzelbeiträgen unterschiedliche Facetten des Themas und Personengruppen. Es soll unter anderem um Migranten gehen, Frauen, Mönchengladbachs Widerstand gegen den Braunkohletagebau, aber auch um Heimatschutz in der Architektur. Schürings will einen Aufsatz beitragen mit dem Titel: „MG+ – Wachsende Stadt Mönchengladbach – Trägt ein Bauboom zur Schaffung oder Zerstörung von Heimat und Identität bei? – Heimat als Kulisse“.

 Karl Boland (links) und Hans Schürings sind die „Motoren“, die die Arbeit der Geschichtswerkstatt vorantreiben.

Karl Boland (links) und Hans Schürings sind die „Motoren“, die die Arbeit der Geschichtswerkstatt vorantreiben.

Foto: Ilgner,Detlef (ilg)/Ilgner Detlef (ilg)

Bauten und Architektur sind eines der Steckenpferde von Schürings, der seinen Mitstreiter Boland aus Studienzeiten kennt. Dass beide Soziologie studiert haben, schlägt sich auch in der Arbeit der Geschichtswerkstatt nieder. „Wir betreiben Sozialgeschichte mit alltagshistorischem Blick“, beschreibt Boland den Ansatz der Geschichtswerker, die an Projekten jeweils wechselnde Autoren und Erforscher Mönchengladbacher Historie beteiligen. Im Laufe eines Vierteljahrhunderts sind aus der Werkstatt so Ausstellungen, Bücher und Aufsätze hervorgegangen. Themen waren beispielsweise Mönchengladbach im Ersten Weltkrieg, Joseph Beuys und Mönchengladbach, das Problem der Säuglingssterblichkeit bis in die 1920er Jahre, die Geschichte des Karnevals in Rheydt und die Zwangsarbeit von Ausländern während der Zeit des Zweiten Weltkrieges.

Schürings und Boland wollen auch dazu beitragen, einen Wesenskern der Stadt freizulegen und bei der Identitätsfindung helfen. „Im Ruhrgebiet wird jedes Relikt der Industriekultur inszeniert“, sagt Schürings. Im „Pott“ gehörten Kohle und Stahl über lange Zeit zum Selbstverständnis der Region. Mithin ist die Inszenierung von Zeugnissen dieser Industriekultur dort auch heute noch ein identitätsstiftendes Band. In Mönchengladbach vermissen Boland und Schürings so etwas. Die Stadt habe keine Strategie, was ihre Identität sein könne, „Borussia ist eine Komponente, aber dann wird das Eis dünn“, sagt Boland.

Besser geeignet wäre nach Ansicht der Geschichtswerker die textilindustrielle Vergangenheit Mönchengladbachs. Trotz moderner Messen wie „MG zieht an“ und der Textilakademie NRW findet Schürings: Der Bezug zur Vergangenheit, zur Tradition und einst heimatbildenden Bedeutung der Textilindustriekultur sei so gut wie abgerissen. „Es passt ins Bild, dass von den über 1000 textilen Produktionsstätten nur sechs Rudimente unter Denkmalschutz stehen“, sagt Schürings. Getreu dem sozialhistorischen Ansatz der Geschichtswerkstatt sähen Boland und Schürings auch die Alltagskultur der Menschen, die in der Textilindustrie gearbeitet haben, besser gewürdigt. So gehe es im Textil-Technikum im Monforts-Quartier bislang „primär um Maschinen“, sagt Schürings. Und: „Auch wundert es nicht, dass von den zirka 700 sogenannten ,Gladbacher Häusern’, die ab 1870 als kleine Doppelhäuser für die textilindustrielle Arbeiterschaft von der Gladbacher Aktienbau-Gesellschaft errichtet wurden und sämtlich noch vorhanden sind, bisher kein einziges für würdig befunden wurde in die Denkmalliste der Stadt Mönchengladbach aufgenommen zu werden.“

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