Serie Was macht eigentlich? Mythos Borussia und die Rabenvögel
Mönchengladbach · Er war 13 Jahre das „Gesicht“ der Fanszene: Borussias Fan-Beauftragter Holger Spiecker. Danach ist es ruhiger geworden um ihn. 2004 schrieb er das Buch „Hardcore Borussia – Ein Leben mit der Raute“. Dann folgt sein erster Roman: „Schwarzer Schwur“ mit einem ganz anderen Thema.
„Ich rede sehr gerne und sehr viel“, sagt Holger Spiecker. Im Mittelpunkt stand dabei sehr lange Borussia Mönchengladbach: „Der Verein war mein Leben, vom Aufstehen am frühen Morgen bis zum Einschlafen am Abend. Es gab nichts Größeres für mich als Borussia, schon als Kind.“ Eine große Liebe des 55-Jährigen ist der Fußball-Bundesligist immer noch, aber nicht mehr die alles Bestimmende.
Im Leben des gebürtigen Wuppertalers hat es einige Sprünge gegeben: vom Dachdecker über den hauptamtlichen Fanbeauftragten Borussias zum telefonischen Kundenberater, mal für Kindermoden, jetzt für eine Bank, und hin zum Roman-Autor – momentan noch als Hobby-Schriftsteller, aber vielleicht auch noch mal als Haupterwerbs-Quelle. Viel reden und schreiben – es passt ja schon zusammen.
Den ersten und radikalen Sprung in seinem Lebenslauf hat 1990 eine schwere Krankheit gefordert: Diabetes Typ 1 mit einer zunächst schlimmen Folge. Nach zehn Jahren als Dachdecker durfte Holger Spiecker von heute auf morgen nicht mehr auf dem Bau arbeiten – ein Riesenschock für ihn: „Das, was ich gelernt hatte, durfte ich plötzlich nicht mehr ausüben. Und eine andere berufliche Qualifikation hatte ich doch nicht! Was sollte nun werden?“ Doch dann eröffnete sich fast ebenso plötzlich eine Chance, die wie ein Geschenk des Himmels kam: die Stelle als fest angestellter Fanbeauftragter Borussias – der erste in der Bundesliga überhaupt.
Helmut Grashoff, als Zweiter Vorsitzender und Geschäftsführer der starke „Manager“ am Bökelberg, bot sie dem jungen Mann an, der sich in der Fanszene und der 1983 gegründeten Interessen-Gemeinschaft der Borussia-Fanclubs hervorgetan hatte – nicht immer einfach, aber sehr engagiert und kommunikativ.
„Ich kann gut mit Menschen“, sagt Spiecker. Und so war er der richtige Mann, als Grashoff einen Nachfolger für Ingo Weiss suchte. Der politisch engagierte Student konnte die immer zeitaufwendiger werdende Arbeit für das 1989 gegründete Fanprojekt nicht länger von Berlin aus hauptamtlich führen, wollte aber partout nicht weg aus der deutschen Metropole. Für Holger Spiecker hingegen war der Umzug von Wuppertal-Elberfeld, wo er aufgewachsen ist und immer gelebt hatte, kein Problem: „Ein guter Teil meines Lebens spielte sich inzwischen ohnehin am Bökelberg und um Borussia ab.“
Seit 1969 ist er Borussia-Fan. Auf die Frage, wie ein sechsjähriger Wuppertaler, obendrein Anhänger des führenden lokalen Fußballvereins WSV, zum Fan Borussia Mönchengladbachs wird, hat Spiecker eine verblüffende Antwort: „Ich war etwa sechs oder sieben Jahre alt, als ich zum ersten Mal das Borussia-Wappen mit der Raute und den Farben schwarz-weiß-grün gesehen habe. Ich fand es sofort wunderschön, hatte es von da an ständig vor Augen. Ich war neun oder zehn, als Borussia beim Wuppertaler SV auf einem Nebenplatz des Zoo-Stadions ein Trainingsspiel gemacht hat – und 0:4 gegen den WSV verlor. Doch meiner Liebe zu Borussia mit diesem wunderschönen Wappen tat das keinen Abbruch – im Gegenteil.“
Am 12. November 1977 nahm ihn seine Mutter, eine der ersten Frauenfußballerinnen in Deutschland, mit zu seinem ersten Bundesliga-Auswärtsspiel Borussias, nach Gelsenkirchen: Sie war Schalke-Fan, stand mit Holger mitten unter den Anhängern des SV 04. „Wir haben 2:1 gewonnen, und die Schalke-Fans haben mich böse angeschaut, als ich über Borussias Tore jubelte“, erzählt Holger Spiecker. Er war auch dabei und litt fürchterlich, als die Gladbacher 1983 bei Fortuna Düsseldorf verloren – 1:4!. Aber: „Das war ausschlaggebend für mich. Von dem Tag an habe ich mich voll und ganz Borussia verschrieben, habe kaum noch ein Spiel versäumt.“
Und er wurde zu den führenden Leuten in der sich mehr und mehr organisierenden Gladbacher Fanszene. 1983 gehörte er, unter anderem mit Theo Weiss, zu den Mitgründern der Interessen-Gemeinschaft der Borussia-Mönchengladbach-Fan-Klubs. Fünf Jahre später wurde, auch auf Helmuts Grashoffs Initiative, das Fanprojekt gegründet, mit Theo Weiss als Vorsitzendem. 1990 übernahm Spiecker den Job, der seit 1989 hauptamtlich besetzt und vom Verein bezahlt ist.
13 Jahre war Holger Spiecker Fanbeauftragter Borussias. Eine Zeit, in der das Fanprojekt wuchs, Fehler von noch unerfahrenen Beteiligten gemacht wurden – aus denen man aber lernte. Das Ende der Zeit mit Holger Spiecker kam im Mai 2003. Warum? „Wir hatten unterschiedliche Auffassungen, wie die Fanbetreuung in Zukunft aussehen soll“, sagt Spiecker. „Und es war für mich ein 24-Stunden-Job. Nun hatte ich mehr Zeit für das Privatleben, für meine damalige Frau Silke, die beim Fanprojekt arbeitete und das Geld für uns verdiente, für meinen 1996 geborenen Sohn Fabian. Und ich hatte Zeit für das Schreiben, das immer schon mein Hobby war. Und das ist immer schon und heute noch mein Traum, vielleicht einmal meine Haupt-Einnahmequelle wird.“ Bereits als heranwachsender Schüler hat Holger Spiecker sich mit Begeisterung als „Autor“ versucht: Kurzgeschichten aller Art, Gedichte, Liedtexte, darunter später auch zwei für die Borussia-Band B. O.: „Die Sucht VfL“ und „Elfer für Borussia“ heißen sie. „Schade, dass ich nie gelernt habe, ein Instrument zu spielen“, sagt Spieker.
Nach der Zeit als Fanbeauftragter Borussias hat er wieder mit dem Schreiben begonnen. Doch nur Kurzgeschichten, Gedichte, Liedtexte wie früher, das wurde ihm bald zu wenig. Er schrieb ein Buch, Titel: „Hardcore Borussia – Ein Leben mit der Raute.“ Es erzählt die Geschichte der Gladbacher Fanbewegung, vom „Mythos Borussia“, vom Bökelberg bis zum Umzug ins neue Stadion – mit dem Spieckers Zeit als Fanbeauftragter endete. 344 Seiten hat es und ist auch ein Stück Aufarbeitung der Probleme im Fanprojekt. Lesenswert nicht unbedingt nur für Hardcore-Fans Borussias. Holger Spiecker ist ein Optimist. So gründete er 2004 eine Firma, für die sich auf Schreibarbeiten spezialisiert hat: „Schriftfluss.“ Doch leben kann er vom Schreiben noch nicht. So nutzt er seine Begabung, viel und überzeugend zu reden, Zugang zu den Menschen zu finden: Er arbeitet als Telefonberater im Call-Center. Da war zum Beispiel schon eine Kindermoden-Firma aus Frankreich, für die er tätig war – ohne je französisch gelernt zu gaben. „Doch ich verkaufe im Call-Center ja nichts, rufe auch nicht selbst an, sondern helfe Kunden, die über die Hotline anrufen, weiter oder verbinde sie an die richtigen Stellen. Das macht mir viel Spaß.“ Seit Mai tut er dies für die Targobank in ihrem Duisburger Call-Center.
Seit Februar 2017 lebt Holger Spiecker in Korschenbroich-Glehn bei seiner neuen Partnerin Andrea, einer Senior Associate Mangerin. „Meine Frau Silke, mit der ich 17 Jahre zusammen war, und ich haben uns auseinandergelebt.“ In nicht allzu ferner Zeit steht nun eine neue Hochzeit an: Holger hat Andrea am Samstag, 28. April, einen Heiratsantrag gemacht – bei einer Stadionführung im Borussia-Park auf dem Balkon vor der VIP-Loge. Anschließend sind sie zum Spiel Borussias gefahren: Schalke, Ergebnis 1:1.